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Obwohl der Mathematikunterricht der Sekundarstufen an allgemeinbildenden deutschen Schu-len gewaltige Ressourcen verschlingt, wurde bisher kein umfassender Versuch unternommen, seinen gesellschaftlichen Nutzen zu untersuchen. Vereinzelte sozialkritische und soziologische Studien zu Schule und Mathematikunterricht legen dar, dass der Nutzen des Mathematikunterrichts nicht allein in der mathematischen Qualifikation der Schüler zu sehen ist. Stattdessen wurde der Mathematikunterricht seit seiner Entstehung genutzt, um Schüler zu beschäftigen, gesellschafts- und arbeitsdienlich zu disziplinieren, ihnen gesellschaftliche Zukunftschancen zu eröffnen oder zu verschließen sowie die herrschende Gesellschaftsordnung zu legitimieren. Die vorliegenden Studien verschließen sich jedoch größtenteils tiefergehenden Untersuchungen dieser Phänomene. Das hat verschiedene Gründe. Erstens schickt es sich für die Mathematikdidaktik, die den Mathematikunterricht unter Verweis auf Aufklärung und Emanzipation legitimiert, nicht, die Existenz zuwiderlaufender Funktionen des Mathematikunterrichts einzugestehen, indem sie diese beforscht. Zweitens wird die Mathematik meist noch verstanden als wertfreie Wissenschaft ohne gesellschaftlich kritische Dimensionen, weshalb sie nicht ins Blickfeld mathematikdidaktischer Untersuchungen gerät und diese zurückgeworfen sind auf die Anwen-dung und das Unterrichten von Mathematik. Drittens wurde keine Gesellschaftstheorie erschlossen, welche einer Untersuchung des gesellschaftlichen Nutzens des Mathematikunterrichts dienlich sein könnte, wodurch die theoretischen Grundlagen solcher Studien oftmals beliebig sind. Das vorliegende Dissertationsprojekt versucht diesen drei Problemfeldern zu begegnen.
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Obwohl der Mathematikunterricht der Sekundarstufen an allgemeinbildenden deutschen Schulen gewaltige Ressourcen verschlingt, wurde bisher kein umfassender Versuch unternommen, seinen gesellschaftlichen Nutzen zu untersuchen. Vereinzelte sozialkritische und soziologische Studien zu Schule und Mathematikunterricht legen dar, dass der Nutzen des Mathematikunterrichts nicht allein in der mathematischen Qualifikation der Schüler zu sehen ist. Stattdessen wurde der Mathematikunterricht seit seiner Entstehung genutzt, um Schüler zu beschäftigen, gesellschafts- und arbeitsdienlich zu disziplinieren, ihnen gesellschaftliche Zukunftschancen zu eröffnen oder zu verschließen sowie die herrschende Gesellschaftsordnung zu legitimieren. Die vorliegenden Studien verschließen sich jedoch größtenteils tiefergehenden Untersuchungen dieser Phänomene. Das hat verschiedene Gründe. Erstens schickt es sich für die Mathematikdidaktik, die den Mathematikunterricht unter Verweis auf Aufklärung und Emanzipation legitimiert, nicht, die Existenz zuwiderlaufender Funktionen des Mathematikunterrichts einzugestehen, indem sie diese beforscht. Zweitens wird die Mathematik meist noch verstanden als wertfreie Wissenschaft ohne gesellschaftlich kritische Dimensionen, weshalb sie nicht ins Blickfeld mathematikdidaktischer Untersuchungen gerät und diese zurückgeworfen sind auf die Anwendung und das Unterrichten von Mathematik. Drittens wurde keine Gesellschaftstheorie erschlossen, welche einer Untersuchung des gesellschaftlichen Nutzens des Mathematikunterrichts dienlich sein könnte, wodurch die theoretischen Grundlagen solcher Studien oftmals beliebig sind. Das vorliegende Dissertationsprojekt versucht diesen drei Problemfeldern zu begegnen.
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Zunächst wird die Gesellschaftstheorie Michel Foucaults erschlossen, welche Macht nicht versteht als ein Gut, das man besitzen könne, sondern auffasst als das Verfügen über Techniken, die die Kontrolle von anderen und sich selbst erlauben. Diese Theorie hat den Vorteil, dass sie den Glaubensgrundsätzen der Aufklärung kritisch gegenübersteht und sich durch ihren Fokus auf Machttechniken hervorragend für eine Deutung von Aktivitäten im Mathematikunterricht eignet. Dann werden die Logik und das Rechnen als zentrale Charakteristika der Mathematik auf ihre gesellschaftlichen Dimensionen untersucht, indem ihre Entstehung kritisch zurückverfolgt wird. Es zeigt sich, dass sowohl die Logik, als auch das Rechnen mit Techniken einhergehen, die einerseits bestimmte Möglichkeiten der Selbstführung als auch bestimmte Möglichkeiten zur Führung anderer umfassen. Diese Techniken ermöglichen den Glauben an eine unvergängliche Wahrheit, ein geordnetes Denken, eine gewaltfreie öffentliche Meinungsbildung und eine gerechte Verwaltung. Zugleich geht mit ihnen notwendig die Gefahr der Ohnmacht des Menschen gegenüber der unveränderlichen Wahrheit, der Einschränkung des Denkbaren, der Unterdrückung einzelner Meinungen und des Missbrauchs von Verwaltungshandeln zu beliebigem Zwecke einher. Diese Dialektik der gesellschaftlichen Rolle des Mathematischen erklärt unter anderem, warum die Mathematik weit stärker als andere Schulfächer polarisiert, d. h. auf viele zugleich anziehend wie auch beängstigend wirkt.
 
Zunächst wird die Gesellschaftstheorie Michel Foucaults erschlossen, welche Macht nicht versteht als ein Gut, das man besitzen könne, sondern auffasst als das Verfügen über Techniken, die die Kontrolle von anderen und sich selbst erlauben. Diese Theorie hat den Vorteil, dass sie den Glaubensgrundsätzen der Aufklärung kritisch gegenübersteht und sich durch ihren Fokus auf Machttechniken hervorragend für eine Deutung von Aktivitäten im Mathematikunterricht eignet. Dann werden die Logik und das Rechnen als zentrale Charakteristika der Mathematik auf ihre gesellschaftlichen Dimensionen untersucht, indem ihre Entstehung kritisch zurückverfolgt wird. Es zeigt sich, dass sowohl die Logik, als auch das Rechnen mit Techniken einhergehen, die einerseits bestimmte Möglichkeiten der Selbstführung als auch bestimmte Möglichkeiten zur Führung anderer umfassen. Diese Techniken ermöglichen den Glauben an eine unvergängliche Wahrheit, ein geordnetes Denken, eine gewaltfreie öffentliche Meinungsbildung und eine gerechte Verwaltung. Zugleich geht mit ihnen notwendig die Gefahr der Ohnmacht des Menschen gegenüber der unveränderlichen Wahrheit, der Einschränkung des Denkbaren, der Unterdrückung einzelner Meinungen und des Missbrauchs von Verwaltungshandeln zu beliebigem Zwecke einher. Diese Dialektik der gesellschaftlichen Rolle des Mathematischen erklärt unter anderem, warum die Mathematik weit stärker als andere Schulfächer polarisiert, d. h. auf viele zugleich anziehend wie auch beängstigend wirkt.
Der Mathematikunterricht stellt sich schließlich dar als Institution, in der die Bedingungen für eine individuelle Ausbildung mathematiknaher Selbstführungstechniken geschaffen werden, etwa für eine Kultivierung des logischen Denkens oder rechnerischen Handelns. Zugleich werden Mechanismen erkennbar, welche dafür sorgen, dass sich Schüler, die sich eine solche Selbstführung nicht aneignen können oder wollen, von der Mathematik distanzieren und die Mathematik unkritisch hinnehmen. Auf diese Weise erzieht der Mathematikunterricht zugleich Zuge-wandte und Abgewandte, wobei beide Gruppen der Führung durch Mathematik unterworfen sind: die einen sozusagen als Komplizen, die das Spiel der Mathematik mitspielen; die anderen als Isolierte, die die anderen ohne kritische Fragen spielen lassen. Auf diese Weise gelingt es dem Mathematikunterricht schließlich, mathematiknahe Führungstechniken wie das logische Argumentieren, das berechnende Handeln und das mathematische Problemlösen als vertrauenswürdige und weitgehend unhinterfragte gesellschaftliche Praktiken zu legitimieren, kurzum eine Machtausübung auf der Grundlage des Mathematischen zu ermöglichen.
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Der Mathematikunterricht stellt sich schließlich dar als Institution, in der die Bedingungen für eine individuelle Ausbildung mathematiknaher Selbstführungstechniken geschaffen werden, etwa für eine Kultivierung des logischen Denkens oder rechnerischen Handelns. Zugleich werden Mechanismen erkennbar, welche dafür sorgen, dass sich Schüler, die sich eine solche Selbstführung nicht aneignen können oder wollen, von der Mathematik distanzieren und die Mathematik unkritisch hinnehmen. Auf diese Weise erzieht der Mathematikunterricht zugleich Zugewandte und Abgewandte, wobei beide Gruppen der Führung durch Mathematik unterworfen sind: die einen sozusagen als Komplizen, die das Spiel der Mathematik mitspielen; die anderen als Isolierte, die die anderen ohne kritische Fragen spielen lassen. Auf diese Weise gelingt es dem Mathematikunterricht schließlich, mathematiknahe Führungstechniken wie das logische Argumentieren, das berechnende Handeln und das mathematische Problemlösen als vertrauenswürdige und weitgehend unhinterfragte gesellschaftliche Praktiken zu legitimieren, kurzum eine Machtausübung auf der Grundlage des Mathematischen zu ermöglichen.
     
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