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Version vom 22. Juli 2013, 16:58 Uhr
Verfasst von Horst Hischer
Übersicht: zur Genese eines pädagogischen Verständnisses von „Bildung“
Eine wichtige aktuelle begriffliche Bestimmung von Didaktik als Wissenschaft ist (neben anderen) die von Didaktik als Theorie der Bildungsinhalte. Das erfordert zum Verständnis zunächst eine aktuelle Deutung von „Bildung“ im pädagogisch-didaktischen Kontext. Eine solche ist seit den 1960er Jahren maßgeblich von Wolfgang Klafki in Anknüpfung an bedeutende Vorgänger, zurückgehend z. B. bis auf Wilhelm von Humboldt, entwickelt worden, und zwar mit seinem Didaktischen Modell einer „kritisch-konstruktiven Didaktik“, [1] das durch „Bildung als Leitbegriff“ gekennzeichnet ist.
Klafki beginnt seine „Erste Studie“ wie folgt: [2]
- Am Anfang eines Bandes, der Beiträge zur Entwicklung einer gegenwarts- und zukunftsorientierten Bildungskonzeption und zur Ausarbeitung einer bildungstheoretisch begründeten, kritisch-konstruktiven Didaktik enthält, ist es angebracht, jene Epoche philosophisch-pädagogischen Denkens – im Sinne kritischer Vergegenwärtigung – in Erinnerung zu rufen, in der der Bildungsbegriff und seine Auslegung als „Allgemeine Bildung“ erstmalig in der Theorie- und Realgeschichte der Pädagogik zu einem Zentralbegriff pädagogischer Reflexion wurde: Es ist der Zeitraum zwischen etwa 1770 und 1830, der philosophie-, literatur- und pädagogikgeschichtlich gewöhnlich als der in sich durchaus spannungsreiche Zusammenhang von Spätaufklärung, philosophisch-pädagogischem Idealismus, deutscher literarischer Klassik, Neuhumanismus und mindestens Teilströmungen der Romantik umschrieben wird.
Dieser Zeitraum „zwischen etwa 1770 und 1830“ ist zugleich etwa der Lebenszeitraum von Wilhelm von Humboldt. Klafki fährt dann fort:
- Die pädagogische Reflexion dieser Phase, in der der Bildungsbegriff aspektreich entfaltet wird, erfolgt weithin noch nicht im Rahmen einer selbständigen pädagogischen Disziplin, sondern sie ist verflochten in mehr oder minder umgreifende geschichts-, kultur-, kunst- und staatsphilosophische sowie anthroplogische Erörterungen – so etwa bei Lessing und Wieland, Herder und Fichte, Schiller und weitgehend auch bei Humboldt –, oder sie erscheint – wie vor allem bei Goethe – als Thema dichterischer Gestaltung, autobiographischer Reflexion und des direkten oder brieflichen Gespräches mit Zeitgenossen, oder sie ist – vor allem in Hegels Werk – integriertes Moment eines philosophischen Gesamtsystems. Bei Pestalozzi indessen, auch bei Kant und Herbart, Schleiermacher, Fröbel und Diesterweg werden bildungstheoretische Reflexionen bereits vorwiegend innerhalb von Argumentationszusammenhängen entfaltet, die von vornherein als spezifisch pädagogisch ausgewiesen sind, so jedoch, daß die Bezüge zu jenen vorher genannten, umfassenderen oder benachbarten Problemkontexten gewahrt bleiben.
Im 1894 erschienenen Band 2 von Meyers Konversationslexikon (mit insgesamt 21 Bänden) – also nach dieser Phase im Anschluss an die Entfaltung des Bildungsbegriffs im pädagogischen Sinn – wird deutlich gemacht, dass nunmehr „Bildung“ mit einem neuen Sinn (gegenüber der ursprünglichen Bedeutung) belegt worden ist, und zwar „vorwiegend im übertragenen Sinn von der durch Erziehung und Unterricht bedingten geistigen Formierung des Menschen“. In dieser enzyklopädischen Formulierung erscheint der zu „Bildende“ noch als das Objekt der „Bildung“, dabei wird zugleich hervorgehoben, dass „Bildung“ sprachlich (wie übrigens alle auf „-ung” endenden Wörter) sowohl den Prozess als auch das Ergebnis dieses Prozesses bezeichnet.
Es sei ferner darauf hingewiesen, dass in diesem enzyklopädischen Beitrag bereits auf die Dichotomie von formaler und materialer Bildung hingewiesen wird, die erst viel später durch Klafki über die Synthese der kategorialen Bildung aufgelöst wurde.
Der „Neue Brockhaus“ von 1959 schreibt zu „Bildung“ u. a.:
- Bildung [...]. 2) der Vorgang geistiger Formung, auch die innere Gestalt, zu der der Mensch gelangen kann, wenn er seine Anlagen an den geistigen Gehalten seiner Lebenswelt entwickelt. Gebildet ist nicht, wer nur Kenntnisse besitzt und Praktiken beherrscht, sondern wer durch sein Wisssen und Können teilhat am geistigen Leben; wer das Wertvolle erfaßt, wer Sinn hat für Würde des Menschen, wer Takt, Anstand, Ehrfurcht, Verständnis, Aufgeschlossenheit, Geschmack und Urteil erworben hat. Gebildet ist in einem Lebenskreis, wer den wertvollen Inhalt des dort überlieferten oder zugänglichen Geistes in eine persönlich verfügbare Form verwandelt hat.
Als Literaturbezug werden hier Georg Kerschensteiner: Theorie der Bildung (1926), Max Scheler: Bildung und Wissen (1947) und Theodor Litt: Berufsbildung und Allgemeinbildung (1947) genannt. Bemerkenswert an dem Brockhaus-Beitrag ist, dass hier der zu Bildende als Subjekt im Vordergrund zu stehen scheint.
Klafkis Arbeit setzt hiernach an. Der Marburger Erziehungswissenschaftler Hans-Christoph Berg spricht 1988 von der „zwanzigjährigen Aussperrung des zweihundertjährigen Bildungsbegriffs“, schreibt in diesem Zusammenhang Klafki die „Heimholung des Bildungsbegriffs“ zu und schreibt u. a. mit Bezug auf den Heidelberger Allgemeinbildungskongress 1986: [3]
- Eine bildungslose Pädagogik ist erst seit zwanzig Jahren Programm und Problem [...] Ebenso geht es bei Heinrich Roth (1969) nicht um „Begabung und Bildung“, sondern um „Begabung und Lernen“ in diesem anderen maßgeblichen Gutachten des Deutschen Bildungsrats – dann in dessen „Strukturplan für das Bildungswesen“ kein Kapitel über Bildung, sondern nur ein Kapitel über Lernen – war das überhaupt ein Deutscher Bildungsrat und nicht bloß ein Deutscher Lernrat? [...] dieses Kongreßthema „Allgemeinbildung“ und Klafkis Plenarvortrag dazu halte ich für einen pädagogikgeschichtlich bedeutsamen Versuch zur Korrektur dieser Fehlentwicklung.
Insofern leitete Klafki 1985 mit seinen damals erschienenen „Neuen Studien zur Bildungstheorie und Didaktik“ eine entscheidende Wende in der Didaktik ein, deren Modelle bis dahin vor allem durch „Lernen als Leitbegriff“ bzw. „Interaktion als Leitbegriff“ gekennzeichnet waren, verbunden mit der „Lernzielorientierung“, die im Vordergrund der didaktischen Diskussionen stand und die Sprachregelung bis in die Lehrpläne hinein dominiert hatte.
Bildung als Prozess der Entwicklung der Bildsamkeit
Friedrich W. Kron schreibt in seiner Darstellung von Klafkis Theorie der kritisch-konstruktiven Didaktik u. a. zur „Bildsamkeit“: [4]
- Die bildungstheoretische Bestimmung didaktischen Handelns ist nicht aus einem archimedischen Punkt abgeleitet, sondern sie entspringt aus einer Paradoxie. Diese wurde bereits von Herbart [...] beschrieben, und sie hat auch in der Gegenwart noch Geltung. Sie ist einerseits dadurch gekennzeichnet, daß kulturelle Vermittlungsprozesse stets zielgerichtet und begründet sein müssen, daß ihnen aber andererseits in Erfahrung und Umgang, in Interesse und Gedankenkreis der Lernenden selbst eine individuelle Lebendigkeit entgegentritt, die sich den Arrangements nicht immer unterwirft, sondern diese auch durchbricht. Herbart hatte diese innere Lebendigkeit als Bildsamkeit bezeichnet. In der Tradition der bildungstheoretischen Diskussioen wird der Prozeß der Entwicklung der Bildsamkeit mit dem Begriff der Bildung belegt.
Und Kron schreibt weiter (a. a. O.):
- Die bildungstheoretische Diskussion hat zu der grundlegenden Einsicht geführt, daß der Mensch in einem lebendigen Verhältnis zur kulturellen Welt steht und diese sinnverstehend auslegt. In der systematischen Betrachtung dieses Grundphänomens erscheint dieses Verhältnis als ein Prozeß, in welchem dem Menschen eine zentrale Rolle zugesprochen wird. Der Mensch wird als jene produktive Stelle angesehen, in welcher die Dinge und Symbole der Welt verarbeitet und als kulturelle Leistungen wieder veräußert werden. Im Individuum kommen somit zwei Momente ins Spiel: die kulturellen Inhalte und die innereren Kräfte. In der Sprache der Bildungstheoretiker werden diese Momente als materialer und formaler Aspekt dieses Prozesses, der Prozeß selbst als Bildungsprozeß bezeichnet; denn in diesem Prozeß bringt der Mensch sich selbst und über sich selbst auch die Kultur hervor. Damit ist das Individuum in seinem Bildungsprozeß in das Zentrum pädagogischer und didaktischer Diskussionen und Forschungen gerückt.
Durch diese Hervorhebung des „prozesshaften Charakters“ von „Bildung“ darf aber nicht verkannt werden, dass dieser Prozesse bzw. diese Prozesse zu einem Ergebnis dieser „Bildung“ führen, das dann meist ebenfalls mit „Bildung“ bezeichnet wird.
Nach der „Heimholung des Bildungsbegriffs“ durch Klafki 1985 ist der damit beschriebene Bildungsbegriff allerdings durch den neuen Terminus „Bildungsstandard“ ohne Not konterkariert worden, denn es sind wegen der „Output-Orientierung“ nur Leistungsstandards, so dass die für „Bildung“ kennzeichnende adressatenbezogene „Offenheit“ verloren zu gehen droht.
Literatur
- Berg, Hans Christoph [1988]: Schule braucht Bildung — Konzepte der Allgemeinbildung von den Tübinger Beschlüssen bis zum Heidelberger Allgemeinbildungs-Kongreß (1986). In: Erziehungswissenschaft und Beruf, 8. Sonderheft (Tagungsband), 20–41, Rinteln.
- Klafki, Wolfgang [2007]: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik – Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik. Weinheim / Basel: Beltz (6., neu ausgestattete Auflage; 1. Auflage 1985).
- Kron, Friedrich W. [2000]: Grundwissen Didaktik. München / Basel: Ernst Reinhardt Verlag (3. aktualisierte Auflage; 1. Aufl. 1993).
Anmerkungen
Der Beitrag kann wie folgt zitiert werden: Madipedia (2013): Bildung. Version vom 22.07.2013. In: madipedia. URL: http://madipedia.de/index.php?title=Bildung&oldid=11884. |