Sozialreflexion im Mathematikunterricht: Kooperation oder Verweigerung
Franz Picher (2007): Sozialreflexion im Mathematikunterricht: Kooperation oder Verweigerung. Dissertation, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.
Begutachtet durch Roland Fischer und Willibald Dörfler.
Tag der mündlichen Prüfung: 20.06.2007.
Zusammenfassung
Diese Arbeit untersucht die Fragestellung „Ist es möglich, mithilfe der Mathematik mit Schülerinnen und Schülern über soziales Verhalten sinnvoll zu reflektieren?“ mittels Konkretisierung in Form eines Unterrichtsprojekts. Ein gemeinsames Reflektieren über soziales Verhalten wird dabei als Sozialreflexion bezeichnet. Sozialreflexion meint somit zweierlei: Einerseits die Reflexion über eine soziale Problemstellung und außerdem ein gemeinsames Nachdenken darüber. Was unter „sinnvollen“ Reflexionen zu verstehen ist, und wie gerade die Mathematik dazu beitragen kann, diese zu erreichen, wird in der Arbeit ausführlich vorgestellt. Zudem wird die Bedeutung von Sozialreflexion für die Lernenden wie auch für die Gesellschaft aus theoretischer Sicht dargestellt.
Die Fragestellung entstand in Diskussionen einer Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Roland Fischer im Rahmen eines Doktorand(inn)enkollegs des Instituts für Didaktik der Mathematik der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Den Arbeiten dieser Gruppe ist ein „Zurücktreten“ vom gewohnten Mathematikunterricht gemeinsam: Die Mathematik steht nicht (mehr) im Zentrum der Betrachtungen sondern hilft bei der gemeinsamen Reflexion über gesellschaftliche (also außermathematische) Fragestellungen. Es geht also nicht darum, Mathematik zu lernen und auch nicht darum, über Mathematik zu reflektieren. Die bearbeiteten Themen reichen dabei von „Gerechtigkeit“ (Betrachtung unseres Lohnsteuersystems) über „Kollektive Entscheidungen“ (Wahlverfahren) bis zu „Messungen im sozialen Kontext“ (Klassenklimaerhebungen, schulische Leistungsbeurteilung, Intelligenz und Intelligenzmessung).
Im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen Entscheidungs-Situationen, die den Beteiligten Kooperation oder Verweigerung zur Wahl stellen, wobei jeweils ein Anreiz zur Verweigerung gegeben ist, das „beste“ Ergebnis aber nur durch Kooperation aller Beteiligten erreicht werden kann. Als prototypische Beispiele für diese Situationen können „Gefangenendilemma“ und „Tragedy of the Commons“ dienen. Die Bedeutung der Auseinandersetzung mit diesen Beispielen liegt darin, dass gesellschaftliche Probleme häufig zwar erkannt werden, aber zuwenig reflektiert darüber nachgedacht wird. So wird in den genannten Situationen oft egoistisches, scheinbar rationales Verhalten gezeigt, wodurch alle Beteiligten verlieren. Es zeigt sich, dass Kooperation durch rationale Argumentation nicht erreicht werden kann – Kooperation muss vielmehr gewollt werden. Sozialreflexion als Reflektieren über soziale Problemstellungen kann dazu beitragen, die Bedeutung von Kooperation für die Gesellschaft hervorzuheben. Sozialreflexion als gemeinsames Nachdenken kann helfen, von sich selbst abzusehen und größere Zusammenhänge zu erkennen.
Teil I beleuchtet diese Bedeutungen von Sozialreflexion aus theoretisch-philosophischer Sicht. Ausgehend von der Darstellung der Wichtigkeit des Themas für die Gesellschaft werden dabei Anforderungen an die Schule abgeleitet. Die praktische Umsetzung der Überlegungen im Unterricht beginnt mit Teil II, der eine Pilotstudie vorstellt. Diese beschäftigt sich mit der Strukturierung von Entscheidungssituationen und bereitete die Schülerinnen und Schüler sowie den Lehrer auf die Bearbeitung der eingangs gestellten Fragestellung vor. Die Pilotstudie zeigt, wie ein (Mathematik-)Unterricht, der die Mathematik (nur) als Hilfsmittel verwendet, gestaltet werden kann.
Im Zentrum des Hauptprojekts (Teil III) steht Sozialreflexion anhand von Spielen vom Typ des Gefangenendilemmas und Texten. Dabei zeigt sich, dass ein reflexionsorientierter Unterricht in der geplanten Art und Weise möglich ist und von den Lernenden als Thema des Unterrichtsgegenstandes Mathematik angenommen werden kann, was mich die obige Fragestellung mit „ja“ beantworten lässt. Teil IV gibt ein Resümee über das Unterrichtsprojekt und stellt eine Einteilung der Schülerinnen und Schüler nach der „Tiefe“ der Reflexionen vor: Alle Lernenden haben im Hinblick auf soziale Verhältnisse dazugelernt; insbesondere wurde auf „höherem“ Niveau über Entscheidungssituationen („Kooperation oder Verweigerung“) nachgedacht. Ein großer Teil der Schülerinnen und Schüler begnügte sich jedoch mit dem Aufgreifen der Reflexionen anderer. Nur wenige Lernende brachten eigene Ideen ein und bewerteten die Lerninhalte auch selbständig. Diese Schülerinnen und Schüler werden als „Reflektiererinnen“ und „Reflektierer“ bezeichnet.
Die Arbeit schließt mit einem Ausblick auf mögliche weitere Untersuchungen: So scheint es interessant, danach zu fragen, wie ertragreich es im Hinblick auf Reflexion sein kann, wenn die Lernenden, die in der Reflexion weit voranschritten, gemeinsam weiterreflektierten und die Ergebnisse dann den anderen vorstellten. Darüber hinaus wird für das Aufheben der Fachgrenzen im Rahmen von Sozialreflexion plädiert, weil die behandelten Inhalte keinem Unterrichtsfach alleine zugeordnet werden können.
Schlagworte
Kontext
Literatur
- Eine Kurzfassung wichtiger Teile der Arbeit ist unter dem Titel „Social Reflection in Mathematics Classes: Cooperation or Denial“ im Zentralblatt für Didaktik der Mathematik, Volume 38 (August 2006) Number 4, erschienen.
- Dissertation online [1]
- Dissertation in Buchform [2]