Vorbemerkung

Eine wichtige aktuelle begriffliche Bestimmung von Didaktik als Wissenschaft ist (neben anderen) die von Didaktik als Theorie der Bildungsinhalte. Das erfordert zum Verständnis zunächst eine aktuelle Deutung von „Bildung“ im pädagogisch-didaktischen Kontext. Eine solche ist seit Ende der 1950er Jahre maßgeblich von Wolfgang Klafki in Anknüpfung an bedeutende Vorgänger, zurückgehend z. B. bis auf Wilhelm von Humboldt, entwickelt worden – und zwar über das „Problem des Elementaren und die Theorie der kategorialen Bildung“, [1] gipfelnd in dem Didaktischen Modell einer „kritisch-konstruktiven Didaktik“, [2] das durch Bildung als Leitbegriff gekennzeichnet ist und auf das Klafki seine Vorstellungen von „Allgemeinbildung“ gründet.

Berücksichtigt man, dass die fundierte Erörterung dessen, was „Bildung“ sein kann und soll, nicht nur von den Erziehungswissenschaften vereinnahmt werden kann und darf, sondern dass diese auch in der Literatur und vor allem in der Philosophie eine bedeutende Rolle gespielt hat und noch spielt, so mag es angesichts des seit Langem bezüglich dieses Themas überbordenden Schrifttums vermessen und gar unmöglich erscheinen, dem Thema „Bildung“ mit einem enzyklopädischen Beitrag gerecht werden zu wollen. Beispielsweise ist das aktuelle Buch von Heiner Hastedt [3] aus zwei Philosophieseminaren zu den Themen „Philosophische Theorien der Bildung, Halbbildung und Unbildung“ bzw. „Bildung im 18. und 19. Jahrhundert“ entstanden. Daher geht es nachfolgend (in gebotener Kürze) im Wesentlichen nur um „Bildung“ im pädagogisch-didaktischen Kontext, und philosophische Aspekte werden nur abschließend mit Literaturverweisen angedeutet.

Zur Genese von „Bildung“ im pädagogisch-didaktischen Kontext

Die Phase zwischen 1770 und 1830

Klafki beginnt seine „Erste Studie“ in seinem Werk wie folgt: [4]

Am Anfang eines Bandes, der Beiträge zur Entwicklung einer gegenwarts- und zukunftsorientierten Bildungskonzeption und zur Ausarbeitung einer bildungstheoretisch begründeten, kritisch-konstruktiven Didaktik enthält, ist es angebracht, jene Epoche philosophisch-pädagogischen Denkens – im Sinne kritischer Vergegenwärtigung – in Erinnerung zu rufen, in der der Bildungsbegriff und seine Auslegung als „Allgemeine Bildung“ erstmalig in der Theorie- und Realgeschichte der Pädagogik zu einem Zentralbegriff pädagogischer Reflexion wurde: Es ist der Zeitraum zwischen etwa 1770 und 1830, der philosophie-, literatur- und pädagogikgeschichtlich gewöhnlich als der in sich durchaus spannungsreiche Zusammenhang von Spätaufklärung, philosophisch-pädagogischem Idealismus, deutscher literarischer Klassik, Neuhumanismus und mindestens Teilströmungen der Romantik umschrieben wird.

Dieser Zeitraum „zwischen etwa 1770 und 1830“ ist zugleich etwa der Lebenszeitraum von Wilhelm von Humboldt. Klafki fährt dann fort:

Die pädagogische Reflexion dieser Phase, in der der Bildungsbegriff aspektreich entfaltet wird, erfolgt weithin noch nicht im Rahmen einer selbständigen pädagogischen Disziplin, sondern sie ist verflochten in mehr oder minder umgreifende geschichts-, kultur-, kunst- und staatsphilosophische sowie anthropologische Erörterungen – so etwa bei Lessing und Wieland, Herder und Fichte, Schiller und weitgehend auch bei Humboldt –, oder sie erscheint – wie vor allem bei Goethe – als Thema dichterischer Gestaltung, autobiographischer Reflexion und des direkten oder brieflichen Gespräches mit Zeitgenossen, oder sie ist – vor allem in Hegels Werk – integriertes Moment eines philosophischen Gesamtsystems. Bei Pestalozzi indessen, auch bei Kant und Herbart, Schleiermacher, Fröbel und Diesterweg werden bildungstheoretische Reflexionen bereits vorwiegend innerhalb von Argumentationszusammenhängen entfaltet, die von vornherein als spezifisch pädagogisch ausgewiesen sind, so jedoch, daß die Bezüge zu jenen vorher genannten, umfassenderen oder benachbarten Problemkontexten gewahrt bleiben.
 
Bildung“ in Meyers Konversationslexikon von 1894, Band 2

„Bildung” in klassischen Enzyklopädien

Im 1894 erschienenen Band 2 von Meyers Konversationslexikon (mit insgesamt 21 Bänden) – also nach dieser Phase im Anschluss an die Entfaltung des Bildungsbegriffs im pädagogischen Sinn – wird deutlich gemacht, dass nunmehr „Bildung“ mit einem neuen Sinn (gegenüber der ursprünglichen Bedeutung) belegt worden ist, und zwar „vorwiegend im übertragenen Sinn von der durch Erziehung und Unterricht bedingten geistigen Formierung des Menschen“ (vgl. Text in nebenstehender Abbildung). In dieser enzyklopädischen Formulierung erscheint der zu „Bildende“ noch als das Objekt der „Bildung“, dabei wird zugleich hervorgehoben, dass „Bildung“ sprachlich (wie übrigens alle auf „-ung” endenden Wörter) sowohl den Vorgang (den „Prozess“) als auch das Ergebnis (das „Produkt“) dieses Prozesses bezeichnet.

Es sei ferner darauf hingewiesen, dass in diesem enzyklopädischen Beitrag in Meyers Konversationslexikon bereits auf die Dichotomie [5] von formaler und materialer Bildung hingewiesen wird, die erst viel später durch Klafki über seine Synthese zur „kategorialen Bildung“ aufgelöst wurde.

Der „Neue Brockhaus“ von 1959 schreibt zu „Bildung“ u. a.:

Bildung [...]. 2) der Vorgang geistiger Formung, auch die innere Gestalt, zu der der Mensch gelangen kann, wenn er seine Anlagen an den geistigen Gehalten seiner Lebenswelt entwickelt. Gebildet ist nicht, wer nur Kenntnisse besitzt und Praktiken beherrscht, sondern wer durch sein Wissen und Können teilhat am geistigen Leben; wer das Wertvolle erfaßt, wer Sinn hat für Würde des Menschen, wer Takt, Anstand, Ehrfurcht, Verständnis, Aufgeschlossenheit, Geschmack und Urteil erworben hat. Gebildet ist in einem Lebenskreis, wer den wertvollen Inhalt des dort überlieferten oder zugänglichen Geistes in eine persönlich verfügbare Form verwandelt hat.

Als Literaturbezug werden hier Georg Kerschensteiner: Theorie der Bildung (1926), Max Scheler: Bildung und Wissen (1947) und Theodor Litt: Berufsbildung und Allgemeinbildung (1947) genannt. Bemerkenswert an dem Brockhaus-Beitrag ist, dass hier der zu Bildende als Subjekt im Vordergrund zu stehen scheint. Klafkis Arbeit setzt etwa zeitgleich hiermit an.

„Bildung“ als Prozess der Entwicklung der Bildsamkeit?

Friedrich W. Kron schreibt in seiner Darstellung von Klafkis Theorie der kritisch-konstruktiven Didaktik u. a. zur „Bildsamkeit“: [6]

Die bildungstheoretische Bestimmung didaktischen Handelns ist nicht aus einem archimedischen Punkt abgeleitet, sondern sie entspringt aus einer Paradoxie. Diese wurde bereits von Herbart [...] beschrieben, und sie hat auch in der Gegenwart noch Geltung. Sie ist einerseits dadurch gekennzeichnet, daß kulturelle Vermittlungsprozesse stets zielgerichtet und begründet sein müssen, daß ihnen aber andererseits in Erfahrung und Umgang, in Interesse und Gedankenkreis der Lernenden selbst eine individuelle Lebendigkeit entgegentritt, die sich den Arrangements nicht immer unterwirft, sondern diese auch durchbricht. Herbart hatte diese innere Lebendigkeit als Bildsamkeit bezeichnet. In der Tradition der bildungstheoretischen Diskussioen wird der Prozeß der Entwicklung der Bildsamkeit mit dem Begriff der Bildung belegt.

Und Kron schreibt weiter (a. a. O.):

Die bildungstheoretische Diskussion hat zu der grundlegenden Einsicht geführt, daß der Mensch in einem lebendigen Verhältnis zur kulturellen Welt steht und diese sinnverstehend auslegt. In der systematischen Betrachtung dieses Grundphänomens erscheint dieses Verhältnis als ein Prozeß, in welchem dem Menschen eine zentrale Rolle zugesprochen wird. Der Mensch wird als jene produktive Stelle angesehen, in welcher die Dinge und Symbole der Welt verarbeitet und als kulturelle Leistungen wieder veräußert werden. Im Individuum kommen somit zwei Momente ins Spiel: die kulturellen Inhalte und die innereren Kräfte. In der Sprache der Bildungstheoretiker werden diese Momente als materialer und formaler Aspekt dieses Prozesses, der Prozeß selbst als Bildungsprozeß bezeichnet; denn in diesem Prozeß bringt der Mensch sich selbst und über sich selbst auch die Kultur hervor. Damit ist das Individuum in seinem Bildungsprozeß in das Zentrum pädagogischer und didaktischer Diskussionen und Forschungen gerückt.

Durch diese Hervorhebung des „prozesshaften Charakters“ von „Bildung“ (als einem der beiden Aspekte von „Bildung“, nämlich dem der „formalen Bildung“) darf aber nicht verkannt werden, dass dieser Prozess zu einem Ergebnis dieser „Bildung“ (als dem anderen Aspekt: der „materialen Bildung“) führt, das dann ebenfalls mit „Bildung“ bezeichnet wird (und in Klafkis durch „Bildung als Leitbegriff“ gekennzeichnetem Modell gemeinsam mit der „formalen Bildung“ die „kategoriale Bildung“ ausmacht):

Kategoriale Bildung

Klafki widmet diesem Aspekt von „Bildung“ sein erstes, 471 Seiten umfassendes Werk [7] und greift damit die alte, ins 19. Jh. zurückgehende kontroverse Diskussion um die Dichotomie von formaler und materialer Bildung auf. [8] Kron schreibt dazu: [9]

In der Auseinandersetzung mit der Tradition einerseits und der aktuellen Diskussion andererseits [...] entwickelt Klafki seine Kritik und seinen Neuansatz der „kategorialen Bildung“. Zunächst weist er darauf hin, daß zwischen materialer und formaler Seite des Bildungsprozesses ein grundsätzlicher Verweisungszusammenhang bestehe, wie ihn das klassische Phänomen auch zeigt. Wenn dieser gesprengt wird, gerät eine materiale Bildung ins Abseits einer durch Bildungsinhalte angefüllten Instrumentalisierung des Bildungsprozesses; andererseits gerät die Ausuferung der formalen Bildung ins Extrem einer reinen Kräfte- und Fertigkeitsschulung. Bildung ist also als ein Ganzes zu sehen. [...]
Klafki bezeichnet nun diesen grundsätzlichen Verweisungszusammenhang der beiden Aspekte der Bildung in einem ganzheitlichen Konzept als „kategoriale Bildung“ [...]. Damit ist der Entwurf eines neuzeitlichen Bildungsbegriffs markiert. Aus der Optik der Subjekte, die in den Bildungsprozess eingelassen sind, realisiert sich die kategoriale Bildung als „doppelseitige Erschließung“ der Individuen. [...]
Kategoriale Bildung meint dem Worte nach, daß Menschen in der Lage sind, von der Welt begründete, d. h. durch Erkenntnis, geprüfte Aussagen zu machen. Diese Fähigkeit ist stets an Inhalte gebunden, die zur Aussage stehen. Formales und materiales Moment bilden damit eine Einheit, die auch den Bildungsprozeß ausmacht, in dem die Fähigkeit zurn Aussage und die Aussage selbst gewonnen werden.

Damit wird implizit auch „formale“ und „materiale“ Bildung erläutert.
Gemäß Klafki ist kategoriale Bildung nicht einfach nur ein Nebeneinander oder Miteinander von formaler und materialer Bildung (was Kron, s. o., mit dem „Verweisungszusammenhang“ ausdrückt): [10]

Mit dieser Einsicht entfällt das Recht, weiter an dem üblichen Dualismus der Theorien „formaler“ und „materialer“ Bildung festzuhalten oder ihr Verhältnis im Sinne einer äußerlichen Verknüpfung oder Ergänzung („sowohl formale als auch materiale Bildung“) zu bestimmen. In einer Theorie, die die Bildung als kategoriale Bildung im entwickelten Sinne versteht, sind Theorien formaler und die materialer Bildung in einer höheren Einheit aufgehoben. „Formale“ und „materiale“ Bildung bezeichnen nicht zwei als solche selbständige „Arten“ oder Formen der Bildung. „Formal“ und „material“ deuten zwei Betrachtungsweisen des gleichen einheitlichen Phänomens an. Die Einheit des formalen und des materialen Momentes ist im Bildungserlebnis unmittelbar erfahrbar. [11]

Klafki weist übrigens ausdrücklich darauf hin, dass die Bezeichnung „kategoriale Bildung“ 1926 von Erich Lehmensick in die Pädagogik eingeführt worden sei, wenn auch in einem ganz anderen Sinn, nämlich als untergeordnet zu „formale Bildung“. [12]

Klafki und „die Heimholung des Bildungsbegriffs“

Der Marburger Erziehungswissenschaftler Hans-Christoph Berg spricht 1988 von der „zwanzigjährigen Aussperrung des zweihundertjährigen Bildungsbegriffs“, schreibt in diesem Zusammenhang Klafki die „Heimholung des Bildungsbegriffs“ zu und ergänzt u. a. mit Bezug auf den Heidelberger Allgemeinbildungskongress 1986: [13]

Eine bildungslose Pädagogik ist erst seit zwanzig Jahren Programm und Problem [...] Ebenso geht es bei Heinrich Roth (1969) nicht um „Begabung und Bildung“, sondern um „Begabung und Lernen“ in diesem anderen maßgeblichen Gutachten des Deutschen Bildungsrats – dann in dessen „Strukturplan für das Bildungswesen“ kein Kapitel über Bildung, sondern nur ein Kapitel über Lernen – war das überhaupt ein Deutscher Bildungsrat und nicht bloß ein Deutscher Lernrat? [...] dieses Kongreßthema „Allgemeinbildung“ und Klafkis Plenarvortrag dazu halte ich für einen pädagogikgeschichtlich bedeutsamen Versuch zur Korrektur dieser Fehlentwicklung.

Insofern leitete Klafki 1985 mit seinen damals erschienenen „Neuen Studien zur Bildungstheorie und Didaktik“ eine entscheidende Wende in der Didaktik ein, deren Modelle bis dahin vor allem durch Lernen als Leitbegriff bzw. Interaktion als Leitbegriff gekennzeichnet waren, verbunden mit der „Lernzielorientierung“, die im Vordergrund der didaktischen Diskussionen stand und die Sprachregelung bis in die Lehrpläne hinein dominiert hatte.

Jedoch: Nach der „Heimholung des Bildungsbegriffs“ durch Klafki 1985 ist der damit beschriebene Bildungsbegriff durch den neuen Terminus „Bildungsstandard“ ohne Not konterkariert worden, denn es sind wegen der „Output-Orientierung“ nur Leistungsstandards, so dass die für „Bildung“ kennzeichnende adressatenbezogene „Offenheit“ verloren zu gehen droht.

Bildung und Mathematik

Hier sei vorläufig nur auf das gleichnamige „klassische“ Werk des Mathematikers Alexander Israel Wittenberg (1926 – 1965) verwiesen. [14]
Im Vorwort zur zweiten Auflage dieses Buchs von 1990 schreibt Hans-Joachim Vollrath:

Als Alexander Israel Wittenberg zu Beginn der sechziger Jahre dieses Buch schrieb, war das Gymnasium als Institution äußerlich bedroht durch die weltweit propagierte Einrichtung der Gesamtschulen. Zugleich war damals der Mathematikunterricht Gegenstand intensiver Reformbestrebungen, in denen es unter dem Schlagwort einer Modernisierung vor allem darum ging, die Ideen der Strukturmathematik in den Unterricht einzubringen.
Wittenberg begründet den Bildungsauftrag des Gymnasiums in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft und zeigt am Beispiel der Geometrie, wie der Mathematikunterricht die Idee der gymnasialen Bildung verwirklichen kann. Indem er deutlich macht, wie weit die Schulwirklichkeit von der Idee entfernt ist, will er aufrütteln und zugleich Auswege aufweisen. Wie er in seinem Vorwort schreibt, bietet er sein Buch auf dem „Marktplatz der Ideen“ an, auf dem es sich durch die Kraft seiner Argumente bewähren soll.
„Bildung und Mathematik“ fand sogleich nach seinem Erscheinen lebhafte Resonanz. Martin Wagenschein sah darin eine Verwirklichung seiner Ideen, stellte sich voll hinter das Werk und warb eindringlich dafür. Als Helge Lenné die Mathematikdidaktik der sechziger Jahre analysierte, hob er drei wichtige Strömungen hervor: die traditionelle „Aufgabendidaktik“, die „Didaktik Wittenbergs und Wagenscheins“ und schließlich die „Neue Mathematik“.
Wie im Grunde von Wittenberg vorhergesehen, scheiterte die „Neue Mathematik“ und verschwand weitgehend aus den Richtlinien und Schulbüchern, damit wohl auch aus dem Unterricht. Die Schule bediente sich stattdessen wieder stärker bei der „Aufgabendidaktik“, bewahrte sich aber die „Didaktik Wittenbergs und Wagenscheins“ als Ideal, dem nachzustreben sei. Neben den zentralen didaktischen Begriffen wie exemplarisches Lehren, genetischer Unterricht und Themenkreismethode, die in die didaktische Literatur Eingang gefunden haben, gelten seine Unterrichtsbeispielen als Muster für besondere Unterrichtsstunden. Indem man diese Ideen über den Schulalltag erhebt, versucht man zugleich, die Schulwirklichkeit seiner Kritik zu entziehen. In der Schulpädagogik mußte Wittenberg durch seine „elitäre“ Argumentation und durch seinen Begriff der Bildung suspekt werden. Denn nun wurde es Mode, diesen Begriff in der Diskussion um Ziele z. B. durch Begriffe wie Sozialisation, Qualifikation oder Kompetenz zu ersetzen. Es wurde still um das Buch. Übrig blieben Schlagworte in mathematikdidaktischen Lehrbüchern, hinter denen die Fülle seiner Ideen und die Tiefe seiner Gedanken verborgen blieben.
Nachdem in den achtziger Jahren kaum noch Mathematiklehrer am Gymnasium eingestellt werden konnten, zeichnet sich inzwischen wieder eine deutliche Nachfrage ab. Das Buch kann angehenden Lehrern eine Orientierung für ihren späteren Beruf geben. Sie können damit dem Mathematikunterricht am Gymnasium neue Impulse geben. Aber auch erfahrene Gymnasiallehrer, die Unbehagen an der Unterrichtswirklichkeit mit ihren Aufgabenplantagen und der falsch verstandenen Leistungsorientierung empfinden, können daraus Mut schöpfen, aus der Routine auszubrechen und Neues zu beginnen. Ich wünsche den Schülern am Gymnasium, daß „Bildung und Mathematik“ von ihren Lehrern neu entdeckt wird.
Inzwischen hat man in der Pädagogik auch erkannt, daß auf den Begriff der Bildung als „Ziel- und Orientierungskategorie pädagogischer Bemühungen“ kaum verzichtet werden kann. [15] Für die Diskussion über die Ziele des Mathematikunterrichts gewinnen damit Wittenbergs Vorstellungen über die Vermittlung von Allgemeinbildung durch den Mathematikunterricht erneut an Bedeutung.

Bildung und Philosophie: Bildung als Selbstbildung

In der Textanthologie „Was ist Bildung?“ stellt Heiner Hastedt [16] Ausschnitte aus Originaltexten mit jeweils kurzem einleitendem Kommentar vor (Textüberschriften meist von ihm selbst gewählt):

Bildung neu entdeckt
  • Michel Foucault (1926–1984): Künste der Existenz; Die Sorge um sich; Hermeneutik des Subjekts
  • Richard Rorty (1931–2007): Bildende Philosophie
  • Judith Butler (* 1956): Das Unbehagen der Geschlechter
Bildung klassisch
  • Johann Gottfried Herder (1744–1803): Journal meiner Reise; Bildung der Menschheit; Fortschritt und Humanität
  • Wilhelm von Humboldt (1767–1835): Theorie der Bildung des Menschen; Programm und praktische Reform; Über das Studium des Alterthums; Grenzen des Staats
Kulturkritik und die Überwindung der Entfremdung
  • Friedrich Schiller (1759–1805): Nutzen als Idol der Zeit
  • Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831): Der ungebildete Mensch denkt abstrakt; Der sich entfremdende Geist
Historische und kulturwissenschaftliche Zwischenbetrachtung
  • Reinhart Koselleck (1923–2006): Bildung ist weder Ausbildung noch Einbildung
  • Georg Bollenbeck (1947–2010): Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters
Kritik einer falsch verstandenen Bildung im Namen des Lebens
  • Arthur Schopenhauer (1788–1860): Selbstdenken statt Gelehrsamkeit
  • Friedrich Nietzsche (1844–1900): Vom Nutzen und Nachteil für das Leben; Verfall der Bildung; Die ehemalige deutsche Bildung
Bildung heute angesichts von Halbbildung und Unbildung
  • Theodor W. Adorno (1903–1969): Theorie der Halbbildung
  • Konrad Paul Liessmann (* 1953): Theorie der Unbildung
  • Robert Spaemann (* 1927): Wer ist ein gebildeter Mensch?
  • Peter Bieri (* 1944): Wie wäre es, gebildet zu sein?

In der Einleitung zu dieser Anthologie schreibt Hastedt:

Bildung ist vor allem Selbstbildung und und die möglichst harmonische Entwicklung der ganzen Person. Nach dem Maßstab einer solchen an der klassischen Bildungsphilosophie orientierten Erstumschreibung wird über Bildung gegenwärtig oft nur noch unter oberflächlicher oder sogar gänzlich sachfremder Nutzung des Wortes im Zusammenhang von Schule und Universität geredet [...].

Das harmoniert einerseits mit dem Verständnis von „Bildung“ und auch von „Allgemeinbildung“ nach Klafki, und andererseits trifft diese Kritik von Hastedt auch auf das in der Didaktik und in der Bildungspolitik aktuelle Modewort „Bildungsstandards“ zu.

Literatur

  • Berg, Hans Christoph [1988]: Schule braucht Bildung — Konzepte der Allgemeinbildung von den Tübinger Beschlüssen bis zum Heidelberger Allgemeinbildungs-Kongreß (1986). In: Erziehungswissenschaft und Beruf, 8. Sonderheft (Tagungsband), 20–41, Rinteln.
  • Hastedt, Heiner (Hrsg.) [2012]: Was ist Bildung? Eine Textanthologie. Stuttgart: Reclam.
  • Klafki, Wolfgang [1959]: Das pädagogische Problem des Elementaren und die Theorie der kategorialen Bildung. Weinheim: Beltz.
  • — [1963]: Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Weinheim: Beltz.
  • — [1985]: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik – Beiträge zur kritisch-kon­struk­tiven Didaktik. Weinheim / Basel: Beltz.
  • — [2007]: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik – Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-kon­struk­tive Didaktik. Weinheim / Basel: Beltz (6., erhebliche erweiterte, durchsichtiger gegliederte und überarbeitete Fassung der 1. Auflage von [Klafki 1985]).
  • Kron, Friedrich W. [2000]: Grundwissen Didaktik. München / Basel: Ernst Reinhardt Verlag (3. aktualisierte Auflage; 1. Aufl. 1993).
  • Wittenberg, Alexander Israel [1990}: Bildung und Mathematik. Stuttgart: Klett (2. Auflage; 1. Auflage 1963).

Anmerkungen

  1. [Klafki 1959]
  2. [Klafki 1985] bis [Klafki 2007]
  3. Vgl. [Hastedt 2012]; mit Dank an Thomas Jahnke für diesen Hinweis!
  4. [Klafki 2007, 15]
  5. Vgl. z. B. http://de.wiktionary.org/wiki/Dichotomie und https://de.wikipedia.org/wiki/Dichotomie.
  6. [Kron 2000, 122]; Hervorhebungen nicht im Original.
  7. [Klafki 1959]
  8. [Klafki 1959]; in [Klafki 1963, 255 ff.] widmet er dem mit seiner „Zweiten Studie“ ein eigenes Kapitel, vgl. dazu auch die Darstellung in [Kron 2000, 122 ff.]. Die überarbeitete Fassung [Klafki 2007] von [Klafki 1963] enthält aber die explizite „Zweite Studie“ zur „kategorialen Bildung“ nicht mehr.
  9. [Kron 2000, 123]
  10. [Klafki 1959, 259]
  11. Fettdruck ist im Original „gesperrt“.
  12. [Klafki 1959, 9]
  13. [Berg 1988, 20–21]
  14. [Wittenberg 1990].
  15. Hier bezieht sich Vollrath auf die „Neuen Studien ...“ von Klafki (vgl. obiges Literaturverzeichnis).
  16. [Hastedt 2012]


Der Beitrag kann wie folgt zitiert werden:
Horst Hischer (2014): Bildung. Version vom 14.06.2014. In: madipedia. URL: http://madipedia.de/index.php?title=Bildung&oldid=17856.