Allgemeinbildung

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Übersicht

Über eine sinnvolle (Be-)Deutung von „Allgemeinbildung“ ist im Zusammenhang mit „Bildung“ in Pädagogik, Philosophie und Didaktik vor allem in den letzten 200 Jahren gerungen worden. Dabei wird leider im Alltag – vor allem in den Massenmedien – oft „Allgemeinbildung“ mit „Allgemeinwissen“ identifiziert und damit dann zugleich fälschlich „Bildung“ auf „Faktenwissen“ reduziert. Ferner ist die Bezeichnung „Bildungsbürgertum“ im heutigen Alltagsverständnis oft mit einer negativen Konnotation von „Bildung“ verbunden.

Sowohl in der (fachübergreifenden) Didaktik als auch in der Didaktik der Mathematik sind in der zweiten Hälfte des 20. Jhs. bemerkenswerte Vorschläge zu einem zeitgemäßen wissenschaftlichen Verständnis von „Allgemeinbildung“ entwickelt worden. Beim Mathematikunterricht geht es dabei um eine zweifache Positionierung bezüglich „Allgemeinbildung“:

  • Welchen Beitrag vermag der Mathematikunterricht aus seinem Selbstverständnis heraus zur Entwicklung eines Verständnisses von „Allgemeinbildung“ zu leisten?
  • Welche Aufgaben erwachsen dem Mathematikunterricht (wie auch anderen Fächern) daneben oder darüber hinaus aus einem fachübergreifenden Verständnis von „Allgemeinbildung“?

Beide Prozesse sind miteinander verschränkt und als nicht abgeschlossen zu sehen.

Nachfolgend werden zunächst didaktische Modelle bzw. Konzepte vorgestellt, die sich im Kontext von Bildung als Leitbegriff grundsätzlich dem Ziel von Allgemeinbildung widmen bzw. dieses Ziel bezüglich einer Stellung des Mathematikunterrichts innerhalb von „Allgemeinbildung“ darstellen, gefolgt von Ansätzen zur Stellung des Mathematikunterrichts im Rahmen von Allgemeinbildung.

Deutungen von „Allgemeinbildung“

Wolfgang Klafki [1]

Für Klafki zeigt sich ein zeitgemäßes Verständnis von Allgemeinbildung u. a. darin, dass Bildung als „Allgemeinbildung“ in dreifachem Sinn zu bestimmen sei, was er drei „Bedeutungsmomente von Allgemeinbildung“ nennt, an anderer Stelle auch „Dimensionen des Allgemeinbildungsbegriffs“:

Allgemeinbildung erweist sich als
o Bildung für alle,
o Bildung im Medium des Allgemeinen,
o Bildung in allen Grunddimensionen menschlicher Interessen und Fähigkeiten.

Das durch diese „drei Dimensionen“ angedeutete didaktische Modell hat als sog. „Kompetenzmodell Klafkis“ Eingang in die Sekundärliteratur (und dann auch in die Bildungspolitik) gefunden – obwohl Klafki gar nicht von „Kompetenzen“ spricht, sondern von „Fähigkeiten“. [2]

Bildung für alle

Das ist für eine demokratisch verfasste Gesellschaftsordnung selbstverständlich und bedarf daher keiner Erläuterung.

Bildung im Medium des Allgemeinen

Klafki meint damit einen verbindlichen Kern dessen, das alle gemeinsam angeht. So schreibt er u. a. bezüglich „Bildung“: [3]

Sie muß [...] einen verbindlichen Kern des Gemeinsamen haben und insofern Bildung im Medium des Allgemeinen sein; [...] Allgemeinbildung muss verstanden werden als Aneignung der die Menschen gemeinsam angehenden Frage- und Problemstellungen ihrer geschichtlich gewordenen Gegenwart und der sich abzeichnenden Zukunft [...].
Der Horizont, in dem dieses uns alle angehende Allgemeine bestimmt werden muß, [...] muß ein Welt-Horizont sein.

Statt „im Medium des Allgemeinen“ kann man auch „im Medium des allen Gemeinen“ sagen und damit Klafkis Intention erfassen.
Interessant ist, dass Klafki von „Bildung im Medium ...“ spricht. [4] Das „allen Gemeine“ – oder noch pointierter: das „alle gemeinsam Angehende“ – erscheint hier also als ein Medium und damit als eine vermittelnde Umgebung, oder noch genauer: als Umgebung für den erkennenden und lernenden Menschen, derer sich alle Angesprochenen bewusst werden müssen, um diese von Klafki so genannten „Frage- und Problemstellungen“ zu erfassen, für die er an späterer Stelle die Bezeichnung „Schlüsselprobleme“ wählt: [5]

Meine Kernthese lautet: Allgemeinbildung bedeutet [...], ein geschichtlich vermitteltes Bewußtsein von zentralen Problemen der Gegenwart und [...] von der Zukunft zu gewinnen, Einsicht in die Mitverantwortlichkeit aller angesichts solcher Probleme und Bereitschaft, an ihrer Bewältigung mitzuwirken. Abkürzend kann man von der Konzentration auf epochaltypische Schlüsselprobleme unserer Gegenwart und der vermutlichen Zukunft sprechen.

Für solche „epochaltypischen Schlüsselprobleme“ nennt er u. a. beispielhaft die „Friedensfrage“, das „Umweltproblem“, die „gesellschaftlich produzierte Ungleichheit“ und „Gefahren und Möglichkeiten der neuen Informations- und Kommunikationstechniken und -medien“. [6] Zugleich warnt er vor einer Verengung im Sinne von fixierten Themen und Lösungswegen: [7]

Mein Vorschlag, die Konzentration auf Schlüsselprobleme im umschriebenen Sinne als eines der inhaltlichen Zentren eines neuen Allgemeinbildungskonzepts anzuerkennen und die entsprechenden curricularen bzw. didaktischen Konsequenzen zu ziehen, setzt voraus, daß ein weitgehender Konsens über die gravierende Bedeutung solcher Schlüsselproblem diskursiv [...] erarbeitet werden kann, nicht aber, daß das auch hinsichtlich der Wege zur Lösung solcher Probleme von vornherein notwendig ist.

Und er ergänzt (a. a. O.):

[...] Zur bildenden Auseinandersetzung gehört zentral die – an exemplarischen Beispielen zu erarbeitende – Einsicht, daß und warum die Frage nach „Lösungen“ der großen Gegenwarts- und Zukunftsprobleme verschiedene Antworten ermöglicht [...].

Diese „unterschiedlichen Wege zur Lösung“ und die „verschiedenen Antworten auf die Frage nach Lösungen“ stehen in engem Zusammenhang mit „Offenheit“ im Unterricht und (damit) mit „Vernetzung“ im pädagogisch-didaktischen Kontext. Und so schreibt Klafki, dieses vertiefend: [8]

Schließlich nenne ich noch eine weitere Bereitschaft und Fähigkeit von übergreifender Bedeutung. Man kann sie als „vernetzendes Denken“ oder „Zusammenhangsdenken“ bezeichnen. [9]

Bildung in allen Grunddimensionen menschlicher Interessen und Fähigkeiten

Klafki beginnt seine Ausführungen hierzu wie folgt: [10]

So notwendig nämlich einerseits die Konzentration auf Schlüsselprobleme ist, sie führt andererseits doch auch die Gefahr von Fixierungen, Blickverengung, mangelnder Offenheit mit sich. Überdies ist jene Konzentration auf Schlüsselprobleme mit Anspannungen, Belastungen, Anforderungen [...] verbunden, die nicht zuletzt auch für junge Menschen zur Überforderung [...] werden könnten, wenn sie die Bildungsprozesse ausschließlich bestimmen würden.
Die Forderung nach Konzentration auf Schlüsselprobleme bedarf also der polaren Ergänzung durch eine Bildungsdimension, deren Inhalte und Lernformen [...] auf die Mehrdimensionalität menschlicher Aktivität und Rezeptivität abzielen [...].

Allgemeinbildung muss also auch vielseitige Bildung sein, damit die Schülerinnen und Schüler sich als Individuen mit eigenen Wünschen und Neigungen erfahren können: „Bildung“ stellt dann den Menschen als Individuum in den Vordergrund – einhergehend mit Schülerorientierung und flexibler, „offener“ Unterrichtsgestaltung. Das spricht aber keinesfalls gegen Unterrichtsziele bzw. Bildungsziele, die eine Orientierung pädagogischen Planens und Handelns ermöglichen und dafür nötig sind. Jedoch können „Bildungsstandards“ solche Offenheit und Individualität wohl kaum ansteuern – zumindest nicht von der Wortwahl her (nämlich der Kombination von Bildung und Standard – einem immanenten Widerspruch).
Ein Plädoyer für „Offenheit“ ist folgender Ausspruch, der Oliver Cromwell (1599–1658) nachgesagt wird:

Ein Mann kommt am weitesten, wenn er nicht weiß, wohin er geht. [11]

Und die zur Offenheit konträre Position verdeutlicht Robert Mager, einer der Väter der sog. „Lernziele“: [12]

Wer nicht weiß, wohin er will, braucht sich nicht zu wundern, wenn er ganz woanders ankommt. [13]

Mathematikunterricht und Allgemeinbildung

Grundsätzliches

Lassen sich die Rolle, die Aufgaben und die Ziele des Mathematikunterrichts aus der zuständigen Fachwissenschaft heraus, also aus der Mathematik, begründen, bewerten und entwickeln? Der Bildungstheoretiker und Didaktiker Wolfgang Kramp (1927–1983), der mit Wolfgang Klafki zusammengearbeitet hat, bestreitet das fachübergreifend in seinem Artikel „Fachwissenschaft und Menschenbildung“ mit seiner

These, daß sich verbindliche und praktikable Aussagen über Menschenbildung von den Fachwissenschaften her grundsätzlich überhaupt nicht gewinnen lassen. [14]

Kramp führt dazu weiter u. a. aus:

Angesichts dieser Probleme gewinnt unsere Frage nach dem Bildungsauftrag und den Bildungsmöglichkeiten der Schulfächer, nach ihrem Zusammenhang und ihren Grenzen, nach der rechten Auswahl, Anordnung und Vermittlung ihrer Bildungsinhalte im Hinblick auf die Gegenwart und Zukunft der heute heranwachsenden Generation besondere Aktualität. Eine befriedigende Antwort darauf wird man aber weder von den Fachwissenschaften noch von der Allgemeinen Pädagogik erwarten dürfen, sondern allein von der wissenschaftlichen Didaktik der einzelnen Fächer und der verschiedenen Schularten [...]. [15]

Das macht erneut die in der Übersicht erwähnte „zweifache Positionierung“ des Mathematikunterrichts in Bezug auf Allgemeinbildung deutlich.

Alexander Israel Wittenberg

Das Buch „Bildung und Mathematik: Mathematik als exemplarisches Gymnasialfach“ des zuletzt in Toronto lebenden Mathematikers Alexander Israel Wittenberg (1926 – 1965) erschien erstmals 1963 bei Birkhäuser und dann 1990 in zweiter Auflage bei Klett. Hans-Joachim Vollrath schreibt im Vorwort zu dieser zweiten Auflage u. a.:

Als Alexander Israel Wittenberg zu Beginn der sechziger Jahre dieses Buch schrieb, war das Gymnasium als Institution äußerlich bedroht durch die weltweit propagierte Einrichtung von Gesamtschulen. Zugleich war damals der Mathematikunterricht Gegenstand intensiver Reformbestrebungen, in denen es unter dem Schlagwort einer Modernisierung vor allem darum ging, die Ideen der Strukturmathematik in den Unterricht einzubeziehen.
Wittenberg begründet den Bildungsauftrag des Gymnasiums in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft und zeigt am Beispiel der Geometrie, wie der Mathematikunterricht die Idee der gymnasialen Bildung verwirklichen kann. Indem er deutlich macht, wie weit die Schulwirklichkeit von der Idee entfernt ist, will er aufrütteln und zugleich Auswege aufweisen. Wie er in seinem Vorwort schreibt, bietet er sein Buch auf dem „Marktplatz der Ideen“ an, auf dem es sich durch die Kraft seiner Argumente bewähren soll. [16]

Wittenberg selber beklagt eingangs, dass die damaligen internationalen Bildungsreformen von der OECD unterstützt würden, also einer „Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit“ (einer auch heute u. a. im Zusammenhang mit PISA präsenten Situation):

In Europa geht eine einflussreiche Entwicklung von einer von der O.E.C.D. organisierten Tagung aus, von der im folgenden noch die Rede sein wird. Der Einfluß rührt nicht zuletzt davon her, daß die O.E.C.D. Reformbestrebungen unterstützt, wenn diese den von der Tagung aufgestellten Empfehlungen entsprechen. Wie einseitig die Teilnehmer jener Tagung […] ausgelesen waren, ist daraus ersichtlich, daß der Tagungsbericht, New Thinking in School Mathematics, im zusammenfassenden Schlußkapitel zu gleicher Zeit feststellen konnte: „Die Vorschläge … sind revolutionärer Art“ (was ohne Zweifel zutrifft), und: „Der Bericht zeigt große Einstimmigkeit betreffs der hauptsächlichen Vorschläge unter den Delegierten aus 17 Ländern.“ – Es überrascht kaum, daß die ganz anders gerichteten „revolutionären“ Vorschläge und Stellungnahmen eines Martin WAGENSCHEIN – die, wie immer man sich zu ihnen stellen mag, jedenfalls zum Gewichtigsten gehören, was in den letzten Jahren über diese Fragen gedacht wurde – in keiner Zeile des Berichts erwogen werden. [17]

Als ein wesentliches Bildungsanliegen Wittenbergs kann sein Plädoyer für eine „gültige Begegnung mit der Mathematik“ im Unterricht angesehen werden:

Im Unterricht muß sich für den Schüler eine gültige Begegnung mit der Mathematik, mit deren Tragweite, mit deren Beziehungsreichtum, vollziehen; es muß ihm am Elementaren ein echtes Erlebnis dieser Wissenschaft erschlossen werden. Der Unterricht muß dem gerecht werden, was Mathematik wirklich ist. [18]

So sollen die Schülerinnen und Schüler Mathematik als „Welt sui generis“ [19] bzw. „Wirklichkeit sui generis“ [20] erfahren, also als „Welt eigener Art“ bzw. „Wirklichkeit eigener Art“.
Wittenbergs Sichtweise von „Mathematik als Wirklichkeit sui generis“ und die Forderung nach einem „realitätsbezogenen Mathematikunterricht“ beziehen sich offensichtlich auf unterschiedliche „Wirklichkeiten“.

Hans Werner Heymann: acht Thesen

Heymann entwickelt in seiner Habilitationsschrift [21] mit Bezug auf die bis dahin vorliegenden bedeutenden Bildungstheorien ein eigenes umfassendes Konzept zur Positionierung des Mathematikunterrichts im Rahmen von Allgemeinbildung (ganz im Sinne von Wolfgang Kramp). Nachfolgend werden dazu zusammenfassende Thesen von ihm in seiner eigenen Formulierung wiedergegeben. [22]

Acht Thesen zum allgemeinbildenden Mathematikunterricht. Eine komprimierte Zusammenfassung der Habilitationsschrift „Allgemeinbildung und Mathematik“, zusammengestellt von Hans-Werner Heymann.
  1. Zwischen gesellschaftlicher und subjektiv empfundener Bedeutsamkeit der Mathematik klafft eine Lücke: Einerseits ist Mathematik ein wesentliches Moment unserer Kultur, und unsere Zivilisation ist ohne Mathematik nicht denkbar. Vielen Heranwachsenden bleibt jedoch dunkel, weshalb es sinnvoll ist, sich über die gesamte Schulzeit hinweg mit diesem Fach zu beschäftigen.
  2. Wie jedes andere Fach an allgemeinbildenden Schulen muß sich der Mathematikunterricht fragen lassen, was er zur Allgemeinbildung der Schülerinnen und Schüler beiträgt. Aus einem Allgemeinbildungskonzept läßt sich zwar nicht deduzieren, wie ein der Allgemeinbildung verpflichteter Fachunterricht im Detail auszusehen hätte. Aber Allgemeinbildungskonzepte können Kriterien liefern, anhand derer sich Unterricht beurteilen und gestalten läßt. Im Wechselspiel mit einschlägigen fachlichen und fachdidaktischen Überlegungen sollte sich mittels eines hinlänglich ausgearbeiteten Allgemeinbildungskonzepts konkretisieren lassen, welche Reform-Akzente für einen „allgemeinbildenden Unterricht“ in dem betreffenden Fach sinnvoll sind.
  3. Das von mir zugrunde gelegte Allgemeinbildungskonzept fußt auf der Herausarbeitung zentraler Aufgaben allgemeinbildender Schulen in unserer Gesellschaft, die ich in folgendem Katalog zusammengestellt habe: Lebensvorbereitung, Stiftung kultureller Kohärenz, Weltorientierung, Anleitung zum kritischen Vernunftgebrauch, Entfaltung von Verantwortungsbereitschaft, Einübung in Verständigung und Kooperation, Stärkung des Schüler-Ichs. Die nachfolgenden Thesen zum Mathematikunterricht orientieren sich an diesen Aufgaben.
  4. Lebensvorbereitung: Die durch den Mathematikunterricht geleistete Lebensvorbereitung im unmittelbar pragmatischen Sinne wird sowohl über- als auch unterschätzt. Einerseits verwenden die meisten Erwachsenen in ihrem beruflichen und privaten Alltag nur selten Mathematik, die über die Stoffe von Klasse 7 hinausgeht. Andererseits werden viele „weichere“, für den Alltag wichtige Qualifikationen im herkömmlichen Mathematikunterricht vernachlässigt: Lebensnützliche mathematische Alltagsaktivitäten wie Schätzen, Überschlagen, Interpretieren und Darstellen sowie die verständige Handhabung technischer Hilfsmittel wie Taschenrechner und Computer sollten im Mathematikunterricht aller Stufen, bei steigendem Anspruchsniveau, häufiger und intensiver thematisiert, mathematisch reflektiert und geübt werden.
  5. Stiftung kultureller Kohärenz: Neben der Tradierung von Mathematik als Kulturgut hat der Mathematikunterricht die Aufgabe, der häufig beschriebenen kulturellen Isolierung der Mathematik entgegenzuwirken. Schüler sollten Mathematik – jenseits des elementaren und lebensnotwendigen Bereichs – exemplarisch als eine Art des Denkens und Problemlösens von universeller Wirksamkeit erfahren können. Der Mathematikunterricht sollte sich deutlicher an zentralen Ideen orientieren, in deren Licht die Verbindung von Mathematik und außermathematischer Kultur deutlich wird, z. B. der Idee der Zahl, des Messens, des funktionalen Zusammenhangs, des räumlichen Strukturierens, des Algorithmus, des mathematischen Modellierens.
  6. Weltorientierung: Mathematik ist Teil unserer Welt und zugleich in ihr verborgen. Mathematikunterricht sollte vielfältige Erfahrungen ermöglichen, wie Mathematik zur Deutung und Modellierung, zum besseren Verständnis und zur Beherrschung primär nicht-mathematischer Probleme herangezogen werden kann. Der Enge herkömmlicher Anwendungen der Schulmathematik, die in den traditionellen „eingekleideten Aufgaben“ zum Ausdruck kommt, sollte durch einen reflektierenden Umgang mit den betrachteten Problemen begegnet werden.
  7. Denkenlernen und kritischer Vernunftgebrauch: Paradoxerweise ist für viele Schüler Mathematik das Fach unverstandenen Lernens schlechthin. An unverstandener Mathematik läßt sich weder alltägliches noch mathematisches Denken schulen. Der Unterricht sollte den Besonderheiten mathematischer Abstraktion und den dadurch bedingten Schwierigkeiten des Mathematiklernens entschiedener Rechnung tragen; von den Lehrenden ist zu bedenken, daß neu zu lernende Mathematik den Schülern häufig als etwas Fremdes und Unbekanntes gegenübertritt, mit dem sie sich nur im aktiven Gebrauch vertraut machen können, als Widerständiges, das bewältigt, als Noch-nicht-Vorhandenes, das erst konstruiert werden muß. Den Schülern sollte genügend Zeit und Gelegenheit gegeben werden, den eigenen Verstand aktiv konstruierend und analysierend einzusetzen, um Mathematik zu verstehen und sich ihrer zur Klärung fragwürdiger Phänomene bedienen zu können – gleichsam als „Verstärker“ ihres Alltagsdenkens.
  8. Soziale und subjektive Momente des Mathematiklernens: Verantwortungsbereitschaft, Verständigung und Kooperation, Ich-Stärke der Schüler – all das scheint mit Mathematikunterricht im herkömmlichen Sinne wenig zu tun zu haben. Es ist aber bedenklich, die fachliche von der sozialen Dimension des Lernens abzuspalten. Die allgemeinbildende Qualität des Mathematikunterrichts ist nicht nur vom Stoff abhängig, sondern von der Art, wie im Unterricht mit dem Stoff und miteinander umgegangen wird, kurz: von der Unterrichtskultur. Es ist eine Unterrichtskultur zu entwickeln, in der Raum ist für die subjektiven Sichtweisen der Schüler, für Umwege, produktive Fehler, alternative Deutungen, Ideenaustausch, spielerischen Umgang mit Mathematik, Fragen nach Sinn und Bedeutung sowie Raum für eigenverantwortliches Tun.

Ersichtlich sind in dieses Allgemeinbildungskonzept Klafkis Vorstellungen mit eingeflossen.

Heinrich Winand Winter: drei Grunderfahrungen

Heinrich Winand Winter stellt im Zusammenhang mit dem Erscheinen von Heymanns Konzept in einem Diskussionsbeitrag ein eigenes Konzept unter dem Titel „Mathematikunterricht und Allgemeinbildung“ vor, das er mit Hilfe von ihm so genannten drei Grunderfahrungen aus seinem Selbstverständnis und seiner profunden Kenntnis des Mathematikunterrichts heraus (auch exemplarisch) begründet, was sich auch in der Unterüberschrift „Was ist mathematische Allgemeinbildung?“ zeigt: [23]

Da sich Schulunterricht – ungeachtet der berechtigten Forderung nach interdisziplinären Aktivitäten – als Fachunterricht versteht, muß jedes Fach der allgemeinbildenden Schule öffentlich aufweisen und begründen, inwieweit es für Allgemeinbildung unentbehrlich ist. Das kann nur als eine permanente Aufgabe verstanden werden.

Für den Mathematikunterricht an allgemeinbildenden Schulen (bis zum Abitur) soll nun skizziert werden, in welcher Weise er für Allgemeinbildung unersetzbar ist:
Der Mathematikunterricht sollte anstreben, die folgenden drei Grunderfahrungen, die vielfältig miteinander verknüpft sind, zu ermöglichen:
  1. Erscheinungen der Welt um uns, die uns alle angehen oder angehen sollten, aus Natur, Gesellschaft und Kultur, in einer spezifischen Art wahrzunehmen und zu verstehen,
  2. mathematische Gegenstände und Sachverhalte, repräsentiert in Sprache, Symbolen, Bildern und Formeln, als geistige Schöpfungen, als eine deduktiv geordnete Welt eigener Art zu lernen und zu begreifen,
  3. in der Auseinandersetzung mit Aufgaben Problemlösefähigkeiten, die über die Mathematik hinausgehen (heuristische Fähigkeiten), zu erwerben.

Der im zweiten Punkt genannte Aspekt von Mathematik als „Welt eigener Art“ greift die von Wittenberg so genannte „Mathematik als Wirklichkeit sui generis“ auf. [24]

Literatur

  • Heymann, Hans Werner [1995]: Acht Thesen zum allgemeinbildenden Mathematikunterricht. Eine komprimierte Zusammenfassung der Habilitationsschrift. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Didaktik der Mathematik, Nr. 61, Dezember 1995, 24 – 25.
  • — [1996]: Allgemeinbildung und Mathematik. Studien zur Schulpädagogik und Didaktik, Bd. 13. Weinheim / Basel: Beltz.
  • Hischer, Horst [2002]: Mathematikunterricht und Neue Medien. Hintergründe und Begründungen in fachdidaktischer und fachübergreifender Sicht. Hildesheim: Franzbecker, S. 192 ff. (3., durchgesehene und korrigierte Auflage 2005).
  • — [2010]: Was sind und was sollen Medien, Netze und Vernetzungen? Vernetzung als Medium zur Weltaneignung. Hildesheim: Franzbecker, 242 Seiten.
  • Klafki, Wolfgang [2007]: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik – Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-kon­struk­tive Didaktik. Weinheim / Basel: Beltz (6., neu ausgestattete Auflage; 1. Auflage 1985).
  • Kramp, Wolfgang: Fachwissenschaft und Menschenbildung. In: Kochan, Detlef C. (Hrsg.) [1972]: Allgemeine Didaktik – Fachdidaktik – Fachwissenschaft. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1972, S. 322 – 384. (Ausarbeitung eines Vortrags bei den Pädagogischen Hochschultagen in Berlin 1963.)
  • Kron, Friedrich W. [2000]: Grundwissen Didaktik. München / Basel: Ernst Reinhardt Verlag (3. aktualisierte Auflage; 1. Aufl. 1993).
  • Winter, Heinrich [1995]: Mathematikunterricht und Allgemeinbildung. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Didaktik der Mathematik, Nr. 61, Dezember 1995, 37 – 46.
  • Wittenberg, Alexander Israel [1990]: Bildung und Mathematik. Stuttgart: Klett (2. Auflage; 1. Auflage 1963).

Anmerkungen

  1. Darstellung nach [Hischer 2010, 199 ff.].
  2. „Kompetenz“ bedeutet ursprünglich „Zuständigkeit“ oder „Befugnis“, hat aber in letzter Zeit auch die Bedeutung von „Sachverstand“ bzw. „Fähigkeit“ oder auch „Fertigkeit“ hinzugewonnen – als ob „Zuständigkeit“ stets mit „Sachverstand“ bzw. „Fähigkeit“ oder gar „Fertigkeit“ verbunden wäre (wenngleich dies wünschenswert ist). (Nach [Hischer 2010, 8].)
  3. [Klafki 2007, 53 f.]
  4. Vgl. die vielfältigen Bedeutungen von Medien in didaktischer Sicht, dazu auch die dort erwähnten Wendungen „im Medium von Kultur“, „im Medium von Moral“ und „im Medium der sozialen Interaktion“.
  5. [Klafki 2007, 56]; „Schlüsselprobleme“ dürfen nicht mit „Schlüsselqualifikationen“ verwechselt werden – denn die bezeichnen etwas ganz anderes!
  6. [Klafki 2007, 56–60]; weitere Erläuterungen zu Klafkis Konzept der Schlüsselprobleme bei [Hischer 2010, 201–204].
  7. [Klafki 2007, 61]
  8. [Klafki 207, 63]
  9. Man beachte, dass er „vernetzendes Denken“ und nicht etwa „vernetztes Denken“ schreibt.
  10. [Klafki 2007, 69]; siehe hierzu auch die kommentierende Darstellung bei [Hischer 2010, 205 f.].
  11. Zitiert in [Hischer 2002, 187] und [Hischer 2010, 205].
  12. Vgl. hierzu auch die durch „Lernen als Leitbegriff“ gekennzeichneten „Didaktischen Modelle“; die Bezeichnung "Lernziel" wird leider meist falsch im Sinne von „Lehrziel“ verwendet.
  13. Ebenfalls a. a. O. zitiert wie Cromwell (s. o.).
  14. [Kramp 1972, 335]
  15. [Kramp 1972, 349]
  16. [Wittenberg 1990, V]
  17. [Wittenberg 1990, XII]
  18. [Wittenberg 1990, 50 f.]
  19. [Wittenberg 1990, 46]
  20. [Wittenberg 1990, 47] und [Wittenberg 1990, 51]
  21. [Heymann 1996]
  22. [Heymann 1995]
  23. [Winter 1995, 37]
  24. [Wittenberg 1990, 51]


Der Beitrag kann wie folgt zitiert werden:
Horst Hischer (2018): Allgemeinbildung. Version vom 6.06.2018. In: madipedia. URL: http://madipedia.de/index.php?title=Allgemeinbildung&oldid=30133.