Zentrale Ideen der numerischen Mathematik - Vorschlag eines Katalogs und unterrichtliche Umsetzungen
Zentrale Ideen der numerischen Mathematik – Vorschlag eines Katalogs und unterrichtliche Umsetzungen
Promotionsprojekt von Marvin Titz, RWTH Aachen. Betreut von Johanna Heitzer und Hans Humenberger.
Zusammenfassung
Der Umgang mit Zahlen und das Berechnen von Ergebnissen sind elementare Bestandteile der Mathematik und seit jeher eng mit deren praktischen Nutzbarkeit verbunden. Schon die alten Ägypter nutzten mathematische Berechnungen, um Pyramiden zu bauen. Im Laufe der folgenden Jahrhunderte wurde die Mathematik einerseits als Strukturwissenschaft, andererseits aber auch als Disziplin mit immer weitreichenderen Anwendungsmöglichkeiten stetig weiterentwickelt. In den letzten Jahrzehnten ist die Bedeutung mathematischer Berechnungen für den technischen Fortschritt stetig gestiegen. Die schnelle Verfügbarkeit großer Datenmengen und leistungsfähiger Rechenmaschinen ermöglichen immer umfangreichere Anwendungen, führen gleichzeitig aber auch zu einem steigenden Bedarf an geeigneten mathematischen Verfahren. Ein Beispiel ist die Computertomografie: Neben dem technischen Fortschritt war und ist die Weiterentwicklung mathematischer Verfahren ein entscheidender Baustein, um aus einer großen Menge an Messwerten Schnittbilder zu berechnen und damit in Körper förmlich hineinzusehen. Ähnliche Beispiele für den Beitrag der Mathematik zum technischen Fortschritt finden sich überall dort, wo Berechnungen durchzuführen sind. Alle Arten von computergestützten Simulationen und Konstruktionen in den Ingenieurwissenschaften, aber auch Tätigkeiten in neueren Bereichen wie Big Data oder Data Science sind ohne hoch entwickelte numerische Berechungsverfahren kaum denkbar. Trotz dieser zunehmenden Bedeutung für diverse Anwendungsdisziplinen spielen numerische Berechnungen im (gymnasialen) Mathematikunterricht eine untergeordnete Rolle. Dies wird auf ambivalente Weise durch den zunehmenden Einsatz digitaler Mathematikwerkzeuge zur Lösung von Anwendungsaufgaben verstärkt. Einerseits arbeiten diese oft numerisch und führen so zur einer direkten Verwendung numerischer Verfahren, andererseits kann gerade durch sie die Herausforderung mathematischer Berechnungen gezielt vermieden und sogar verschleiert werden. Nur selten wird der Einsatz zum Anlass genommen, die Rechenverfahren mit ihren spezifischen Problemstellungen und Eigenschaften zu thematisieren und somit die Berechnungsverfahren selbst zum Unterrichtsgegenstand zu machen. Aus diesem Gegensatz heraus erwächst das Anliegen dieser Arbeit: Das Potential des mathematischen Teilgebiets Numerik soll für den Schulunterricht aufgezeigt und für beide Sekundarstufen zugänglicher gemacht werden. Dazu wird die Numerik zunächst von einem didaktischen Standpunkt aus genauer beleuchtet, um wichtige Grundgedanken zu extrahieren. Auf dieser Basis sollen Möglichkeiten aufgezeigt werden, wie Aspekte der numerischen Mathematik in der Schule umgesetzt werden können. Dabei entstehen folgende Produkte: Ein Katalog zentraler Ideen der Numerik: Anhand eines Ideenkatalogs werden grundlegende Konzepte benannt sowie deren Relevanz für die Fachwissenschaft, die Forschung, die Hochschul- und die Schulmathematik aufgezeigt. Auf Basis einer fachdidaktischen Analyse wird die Bedeutung dieser Konzepte anhand ausgewählter Kriterien gerechtfertigt. Zur Abrundung wird der Katalog als Ganzes hinsichtlich möglicher Defizite und Redundanzen betrachtet, um ein in sich stimmiges Konstrukt vorzulegen. Wesentliches Merkmal der herausgearbeiteten Ideen ist die Möglichkeit diese sowohl auf Schul- als auch auf aktuellem Forschungsniveau konkretisieren zu können. So kann dieser Katalog dazu beitragen, eine bessere Vorstellung von dem zu entwickeln, was numerische Mathematik ist und was sie kennzeichnet. Unterrichtsmaterialien und Vermittlungsvorschläge: Zu den im Katalog vorgestellten zentralen Ideen werden Unterrichtsmaterialien vorgestellt, die mit Schülergruppen erprobt, mit aktiven Lehrkräften diskutiert und auf dieser Basis weiterentwickelt wurden. Neben kleineren Unterrichtsvorschlägen, die interessierten Lehrkräften als Anregung dienen sollen, werden zwei umfangreichere Workshops vorgestellt:
- Am Anwendungskontext Computertomografie erarbeiten sich Oberstufenschülerinnen und -schüler wesentliche Fragestellungen der numerischen Mathematik, wie sie beim Lösen linearer Gleichungssysteme zu meistern sind. Elemente des Workshops sind neben der händischen Ausführung verschiedener Rechenverfahren auch Untersuchungen mit dynamischen Arbeitsblättern (GeoGebra) sowie vorbereiteten Arbeitsumgebungen mit Spezialsoftware (MATLAB bzw. GNU Octave).
- Der Umgang mit ungenauen Werten und Berechnungsergebnissen wird in einem weiteren Workshop thematisiert, dessen Materialien ab der Mittelstufe einsetzbar sind. Neben einer Sensibilisierung für ein sinnvolles Maß an Genauigkeit werden Anwendungskontexte thematisiert, in denen die exakte Berechnung von Ergebnissen weder möglich noch sinnvoll ist.
Anhand dieser Produkte sind zwei Erkenntnisse greifbar: Zum einen ist eine verstärkte Integration numerischer Grundgedanken in den Schulunterricht sowohl möglich als auch gewinnbringend und trifft bei Lehrenden sowie Lernenden auf Interesse. Zum anderen wird exemplarisch gezeigt, wie Materialien für eine unterrichtliche Umsetzung aussehen können, die auf einem tragfähigen fachdidaktisch-fundierten Konzept basieren.
Zusammenfassend gilt: Mit der numerischen Mathematik kann der Schulunterricht praxisbezogen und authentisch gestaltet werden. Sie bietet einerseits das Potential, mit Schülerinnen und Schülern anwendungs- und forschungsnahe Fragestellungen zu thematisieren, was zur Konstruktion eines realistischen Mathematikbilds förderlich ist. Andererseits ermöglicht die gute Elementarisierbarkeit der Inhalte eine Anpassung des Anforderungsniveaus an unterschiedliche Jahrgangsstufen, sodass ein Kompetenzaufbau über die Jahrgangsstufen bis hin zur Universitätsmathematik umsetzbar erscheint.