Umgang Jugendlicher mit dem Sachkontext realitätsbezogener Mathematikaufgaben
Andreas Busse (2009): Umgang Jugendlicher mit dem Sachkontext
realitätsbezogener Mathematikaufgaben. Dissertation, Universität Hamburg.
Begutachtet durch Gabriele Kaiser, Angelika Bikner-Ahsbahs und Marianne Nolte
Tag der mündlichen Prüfung: 10.02.2009.
Zusammenfassung
Ausgehend von eigenen Unterrichtserfahrungen mit dem Phänomen, dass die unterrichtliche Behandlung außermathematischer Probleme allein noch nicht die Qualität von Lehr-Lernprozessen erhöht, wird in dieser Arbeit einer speziellen Frage realitätsbezogenen Mathematikunterrichts nachgegangen: Welche Rolle spielt der Sachkontext bei der Aufgabenbearbeitung?
Die Mehrzahl bisheriger Studien bezieht sich auf Kinder im Grundschulalter. Dabei zeigt sich relativ einheitlich, dass vertraute Sachkontexte mit guten Leistungen korrespondieren. Die wenigen Studien zu älteren Schülerinnen und Schülern ergeben ein weniger einheitliches Bild: Hier treten auch gegenläufige Effekte auf, die Vertrautheit mit dem Sachkontext wird teilweise als hinderlich beschrieben. Das Ziel dieser Untersuchung ist, eine vertiefte Einsicht in die individuellen Umgehensweisen Jugendlicher mit dem Sachkontext realitätsbezogener Aufgaben zu gewinnen. Methodologisch ist die Arbeit innerhalb qualitativer Ansätze verortet und folgt dort dem interpretativen Paradigma. Die Datenerhebung fand im Rahmen eines dreistufigen Ansatzes bestehend aus Aufgabenbearbeitung, nachträglichem lauten Denken und Interview statt. Mit diesem Vorgehen konnte eine Triangulation verschiedener qualitativer Perspektiven und Methoden realisiert werden. Die Aufgaben unterschieden sich sowohl im Sachkontext als auch im Grad der Notwendigkeit, vereinfachende Annahmen zu formulieren.
Die Daten jeder der drei Erhebungsstufen wurden zunächst separat gedeutet. Diese drei Teildeutungen wurden dann interpretierend zusammengeführt. Methodologisch liegt die Separation der Deutungen darin begründet, dass jede Erhebungsstufe eine spezifische Situation darstellt, die Daten einer eigenen Art erzeugt; eine bloß additive Zusammenlegung dieser Daten mit Daten einer anderen Erhebungsstufe ist daher nicht geboten.
Die theoretischen Ansätze des situierten Lernens (Lave & Wenger 1991) und der soziomathematischen Normen (Yackel & Cobb 1996) werden in dieser Arbeit zueinander in Beziehung gesetzt. Nach dem Ansatz des situierten Lernens erhält jedes – auch mathematisches – Handeln durch seine soziale und materielle Umgebung einen spezifischen handlungsorientierenden Sinn. Die das mathematische Handeln prägenden Normen – die soziomathematischen Normen – sind Teil dieser Umgebung. Verschiedene Umgebungen generieren somit verschiedene soziomathematische Normen; in diesem Sinne ist von einer Situiertheit soziomathematischer Normen auszugehen.
Vor diesem theoretischen Hintergrund konnten die Interpretationen der Daten neu geordnet werden. Insbesondere wurde es möglich, Divergenzen zwischen Teildeutungen innerhalb eines Falles als Effekte der Situiertheit soziomathematischer Normen zu erklären. Es konnte zudem beobachtet werden, dass sich alle Versuchspersonen mit der Frage der Zulässigkeit gewisser Argumentationsweisen – also mit soziomathematischen Normen – auseinandersetzten.
Idealtypisch zugespitzt können vier Typen des Umgangs mit dem Sachkontext unterschieden werden: realitätsgebunden (sachkontextuale Argumentation), mathematikgebunden (mathematische Argumentation), integrierend (mathematische und sachkontextuale Argumentation ergänzen sich) und ambivalent; die Umgehensweise nach dem Idealtyp ambivalent ist dadurch charakterisiert, dass eine realitätsbezogene Aufgabe zwar mit ihren Aspekten Mathematik einerseits und Realität andererseits wahrgenommen wird, jedoch eine Ambivalenz hinsichtlich der Frage herrscht, welche Argumentationsweise zulässig ist. So wird zwiespältig agiert: Während intern eine sachkontextnahe Argumentation bevorzugt wird, werden extern mathematiknahe Begründungen favorisiert; beide Argumentationsweisen bleiben dabei unverbunden. Des Weiteren zeigte sich, dass der angebotene Sachkontext einer realitätsbezogenen Aufgabe individuell sehr unterschiedlich rezipiert wird. Die so entstehenden individuellen sachkontextualen Vorstellungen können sich während einer Aufgabenbearbeitung entwickeln, verändern oder neu bilden. Auch impliziert weder die Art der Aufgabe noch der spezielle Sachkontext eine bestimmte Umgehensweise mit dem Sachkontext; es zeigen sich vielmehr auch hier individuell sehr verschiedene Ausprägungen.
Für die schulische Praxis weisen die Ergebnisse der Studie auf die Notwendigkeit hin, die im Zusammenhang mit Mathematischer Modellierung relevanten soziomathematischen Normen – etwa gemeinsam mit der Vermittlung von Metawissen über den Modellierungsprozess – zu explizieren. Weiterhin bietet das Wissen über die Individualität sachkontextualer Vorstellungen sowie über die verschiedenen Umgehensweisen mit dem Sachkontext Lehrkräften die Möglichkeit, spezifischer auf den einzelnen Schüler oder die einzelne Schülerin einzugehen.
Schlagworte
Sachkontext, situierten Lernens, soziomathematischen Normen, Mathematischer Modellierung
Kontext
Literatur
- Jean Lave & Etienne Wenger [1991]: Situated learning. Legitimate peripheral participation. Cambridge: Cambridge University Press.
- Erna Yackel & Paul Cobb [1996]: Sociomathematical norms, argumentation, and autonomy in mathematics. In: Journal for Research in Mathematics Education, 27(1996)4, 458-477.