Lernschwierigkeiten

Verfasst von Oliver Thiel

Begriffliches und Erscheinungsformen[1]

Wenn ein Kind in der Schule mit dem Lernen in einem bestimmten Bereich (z.B. beim Rechtschreiben oder beim Rechnen) besondere Schwierigkeiten hat, in anderen Lernbereichen jedoch nicht, dann wird von einer isolierten schulischen Minderleistung gesprochen. Im Alltag hat sich der Begriff Lernschwierigkeiten durchgesetzt. Um verstehen zu können, was mit Lernschwierigkeiten genau gemeint ist, muss man diesen Begriff von zwei anderen, ähnlichen abgrenzen – von der Lernbehinderung und der Lernstörung.
Von Lernbehinderung spricht man bei Kindern, die in ihrer Entwicklung bzw. ihren schulischen Leistungen im Vergleich zur Altersnorm einen erheblichen Rückstand aufweisen und deshalb einen sonderpädagogischen Betreuungsbedarf haben. Näheres können Sie dem Kapitel 2.2 Kinder mit sonderpädagogischem Betreuungsbedarf entnehmen.
Wer von Lernstörung spricht, meint damit in der Regel eine mehr oder weniger konstante Persönlichkeitseigenschaft eines Menschen. Das ist aus pädagogischer Sicht wenig hilfreich. Aus der Feststellung, dass ein Kind eine Lernstörung hat, lassen sich noch keine handlungsleitenden Folgerungen ziehen[2]. Dazu müsste man genau erklären können, welche Persönlichkeitseigenschaften genau man unter dem Attribut "lerngestört" subsumiert, wie sich diese Persönlichkeitseigenschaften verändern lassen und inwieweit eine Veränderung dieser Persönlichkeitseigenschaften dann tatsächlich zu besseren Leistungen im führt. Hierzu gibt es jedoch bislang mehr Vermutungen als gesicherte Erkenntnisse[3]. Während einer solchen Definition also nichts Positives abzugewinnen ist, hat sie jedoch negative Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl des Kindes, das als "gestört" stigmatisiert wird[4].
Der Begriff Lernschwierigkeiten soll deutlich machen, dass es sich weder um eine Einschätzung der Gesamtpersönlichkeit des Schülers noch um eine Krankheit handelt[5]. Er geht allein vom beobachteten Phänomen aus. Solche Schwierigkeiten kann prinzipiell jeder zeitweise bekommen. Durch diese Definitionen wird also kein Schüler stigmatisiert, da nicht sein Versagen als Kriterium herangezogen wird. An der Entstehung von Lernschwierigkeiten sind auch äußere Faktoren beteiligt.
Für Lehrer und Eltern betroffener Kinder sollte also nicht so sehr die Frage im Mittelpunkt stehen, ob ein Kind eine Lernstörung hat oder nicht. Wichtiger ist, danach zu fragen, welche Lernschwierigkeiten das Kind im Mathematikunterricht hat und wie ihm geholfen werden kann. Die entscheidende Frage dabei ist, wo die Ursachen für die Schwierigkeiten liegen.
Hat ein Kind Schwierigkeiten beim Lernen, so liegt das daran, dass ihm subjektive Leistungsvoraussetzungen zur Bewältigung gestellter Lernanforderungen fehlen bzw. dass diese nur ungenügend ausgeprägt sind[6]. Das Kind kann dadurch bestimmte Lerninhalte auch mit großer Anstrengung nur teilweise oder gar nicht bewältigen. Zu den subjektiven Leistungsvoraussetzungen werden gezählt:

  • der aktuelle Entwicklungsstand von Kenntnissen, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Einstellungen
  • sowie sozialcharakterliche Besonderheiten wie Selbststeuerung, Werterleben, Leistungsmotivation u.ä.

Man spricht hier von subjektiven Leistungsvoraussetzungen, da je nach Lernanforderung und äußeren Rahmenbedingungen andere Voraussetzungen für ein erfolgreiches Lernen nötig sein können. Eigenschaften des Kindes allein reichen zur Ursachenerklärung also nicht aus.
Lernschwierigkeiten können prinzipiell in jedem Fach, Lernbereich oder Stoffgebiet auftreten. Am bekanntesten und für die Schullaufbahn des betroffenen Kindes am bedeutendsten sind jedoch extreme Lernschwierigkeiten im Mathematik-, Deutsch- und Fremdsprachenunterricht.
Extreme Lernschwierigkeiten im Mathematikunterricht werden umgangssprachlich als Rechenschwäche bezeichnet[7]. Als Fremdwort ist auch der Begriff Dyskalkulie gebräuchlich, obwohl er ursprünglich für ein Versagen im Mathematikunterricht geprägt wurde, das auf einem Hirnschaden beruht[8]. Der von Ranschburg 1916 geprägte Begriff Arithmasthenie[9] wird heute nur noch selten verwendet.


Ursachen von Lernschwierigkeiten

Es wird heute allgemein davon ausgegangen, dass die Ursachen für Lernschwierigkeiten breit gefächert und vernetzt sind[10]. Eine Aufzählung defizitärer Merkmalsbereiche als Ursachen für Lernschwierigkeiten kann also nicht ausreichen[11]. Bei solchen Aufzählungen ist zudem meist das Zustandekommen der Listen unklar[12].
Heute wird Lernen von den Fachdidaktiken und der Lernpsychologie als ein Entwicklungsprozess verstanden. Jedes Kind muss seinen eigenen Weg finden und sich ein eigenes Verständnis aufbauen. Bei Kindern mit Lernschwierigkeiten ist dieser Prozess zeitweise behindert.

Die Ursachen für solche Lernschwierigkeiten sind in einem komplexen Zusammenwirken verschiedener Bedingungen zu suchen. Auf der einen Seite stehen die psychischen und physischen Merkmale des Kindes, aber auch die sozialen Faktoren, unter denen es aufwächst. Auf der anderen Seite müssen die Bedingungen, unter denen der Bildungs- und Erziehungsprozess stattfindet, berücksichtigt werden[13]. Lernschwierigkeiten treten nur in konkreten Situationen unter bestimmten Bedingungen auf und müssen deshalb auch in diesen Situationen analysiert und charakterisiert werden. Erst eine ungenügende Passung der subjektiven Leistungsvoraussetzungen des Schülers mit den Lernanforderungen, die an ihn gestellt werden, führt zum Auftreten und zur Verfestigung von Schwierigkeiten[14][15].
Bei den Komponenten auf der Seite der Schülerin bzw. des Schülers lassen sich drei Komplexe unterscheiden: biologische, psychische und soziale Komponenten[16].

Lernschwierigkeiten im Mathematikunterricht[17]

Lernschwierigkeiten im Mathematikunterricht entstehen dadurch, dass die der Mathematik innewohnenden Hürden des Verstehens von einem Kind nicht bearbeitet wurden. Für viele Experten (z.B. Lerntherapeuten) stellen die folgenden Kernelemente der Arithmetik für viele Kinder solche Hürden beim Mathematiklernen dar[18]:

  • der kardinale und relationale Zahlbegriff
  • die Logik des Stellenwertsystems
  • die Operationslogik:
  1. Welche Fragen stellen die Rechenoperationen?
  2. Und auf welche Weise beantworten sie diese Fragen?
  3. Warum funktionieren die schriftlichen Rechenverfahren?
  4. manchmal insbesondere die Operationslogik der Division auch als Voraussetzung für die Bruchrechnung.

Von wissenschaftlicher Seite werden vor allem zwei "Nadelöhre"[19] in den Blick genommen, die jedoch mit den oben genannten Kernelementen eng zusammen hängen:

  • die Integration von Mengenvorstellungen und Wissen über Zahlen zum Kardinalzahlbegriff
  • und das Teil-Teil-Ganzes-Konzept, denn
  1. dieses Konzept ermöglicht erst die Überwindung des zählenden Rechnens und die Entwicklung effektiver Rechenstrategien,
  2. und auf ihm bauen die weiterführenden Rechenoperationen auf.

Entwicklung des Zahlbegriffs

Die Entwicklung des Zahlbegriffs und des Teil-Teil-Ganzes-Konzeptes im Kopf des Kindes ist ein Prozess, der sich in Form von Kompetenzstufen beschreiben lässt. Krajewski[20] stellt ihn in drei Stufen dar, Gerlach[21] kann sogar acht Stufen voneinander unterscheiden. Die folgende Darstellung der Entwicklung folgt dem 5-Stufen-Modell von Gerlach, Fritz, Ricken und Schmidt[22]:


Stufe 1

Die Fähigkeit, kleine Mengen nach der Anzahl ihrer Objekte miteinander zu vergleichen, und die Kenntnis der Zahlwörter entwickeln sich zunächst völlig unabhängig voneinander. Mit dem Spracherwerb kann zwar die Zahlwortreihe aufgesagt werden, und nach und nach erkennt das Kind, dass ihre Reihenfolge unveränderlich ist. Aber sie wird noch nicht zum Zählen von Objekten verwendet. Ein Mengenvergleich erfolgt auf dieser Stufe durch eine 1-zu-1-Zuordnung der Objekte.

Stufe 2

Auf der zweiten Stufe werden die bisher inhaltslosen Zahlwörter auf Anzahlen von Objekten bezogen. Das Kind zählt nun, indem es die Zahlwortreihe aufsagt, während es die einzelnen Objekte antippt. Ein großer Schritt ist getan, wenn es gelingt, die Zahlwortreihe zum Vergleich von Anzahlen zu nutzen. Durch Aufsagen der Zahlwortreihe kann das Kind nun auch Zahlen miteinander vergleichen, da es weiß, dass später genannte Zahlen größer sind. Auch die Addition und Subtraktion von Objekten können Kinder nun zählend und mit Hilfe der eigenen Finger bewältigen.

Stufe 3

Die dritte Stufe ist erreicht, wenn das Kind zu der Einsicht gelangt, dass ein Zahlwort nicht nur eine Position in der Zahlwortreihe angibt, sondern auch eine Anzahl beliebiger Objekte beschreibt. Die Zahl Fünf z. B. ist nun nicht nur die Zahl nach der Vier und vor der Sechs, sondern das Kind versteht, dass die Anzahlen Eins, Zwei, Drei und Vier in der Fünf enthalten sind.
Das Kind wendet nun auch erste Rechenstrategien beim Auszählen von Mengen an. Es muss nun nicht mehr jede Teilmenge bei 1 beginnend auszählen, sondern kann von der Anzahl der Objekte der ersten Teilmenge ausgehend die Summe durch weiterzählen ermitteln. Außerdem kann es Vorgänger und Nachfolger einer Zahl benennen, ohne die Zahlwortreihe aufzusagen.

Stufe 4

Ausgehend von dem Wissen, dass eine Zahl die vorhergehenden Zahlen enthält, erkennt das Kind auf der vierten Stufe, dass sich eine Zahl durch andere Zahlen zusammensetzen lässt bzw. in Teilmengen zerlegt werden kann. Es erwirbt das Teile-Ganzes-Konzept. Außerdem entwickelt sich allmählich der relationale Zahlbegriff, d.h. das Kind versteht, dass eine Zahl auch den Abstand zwischen zwei anderen Zahlen bezeichnen kann. Damit ist es in der Lage die Differenz zweier Mengen quantitativ richtig darzustellen.

Stufe 5

Auf der fünften Stufe gewinnt das Kind weitere Flexibilität im Umgang mit mathematischen Aufgaben, da es immer sicherer mit Teilmengen umgehen kann. Es kann Aufgaben effektiver lösen, indem es Zahlen zerlegt oder Summanden vertauscht. Es erkennt die dreigliedrige Grundstruktur von Additions- und Subtraktionsaufgaben, das Teil-Teil-Ganzes-Konzept. Sind a und b Teile und c das Ganze so gilt: a + b = c und c – b = a. Damit merkt das Kind, dass Additions- und Subtraktionsaufgaben umkehrbar sind. Deshalb kann es auch erst auf dieser Stufe Aufgaben lösen, bei denen nach der Ausgangsmenge gefragt ist: [] – b = a.

Diagnose

Eine Diagnose dient dazu, Unterschiede zwischen verschiedenen Personen im Verhalten und Erleben zu erfassen sowie Veränderungen bestimmter Merkmale einer Person festzustellen. Das Ziel der Diagnose ist, geeignete Maßnahmen abzuleiten, so dass unerwünschte Zustände behoben werden. So ist das Ziel im Mathematikunterricht der Grundschule die Schwierigkeiten, die ein Kind beim Rechnen hat, zu analysieren, um sie zu beheben. Die Diagnose soll helfen, die richtigen Entscheidungen darüber zu treffen, ob eine spezielle Förderung dieses Kindes nötig ist und wie diese Förderung aussehen sollte.
Es geht bei der Diagnose von Lernschwierigkeiten im Mathematikunterricht also nicht darum, ein Kind als "rechenschwach" oder nicht zu etikettieren. Vielmehr ist es wichtig zu erkennen, welche mathematischen Konzepte das Kind nicht richtig erfasst hat. Meyerhöfer[23] spricht von "nicht bearbeiteten stofflichen Hürden (nbsH)". Um dem Kind dann bei der Bearbeitung dieser Hürden helfen zu können, ist es außerdem wichtig zu ergründen, wo die Ursachen für die Lernschwierigkeiten liegen, d.h. welche Lernvoraussetzungen fehlen oder nicht ausreichend entwickelt sind.
Man muss grundsätzlich zwischen Standardisierten Tests und Qualitativen Diagnoseverfahren unterscheiden. Beide erfüllen unterschiedliche Aufgaben. Wenn geklärt werden soll, wie ein Kind zu falschen Ergebnissen kommt, dann ist eine qualitative Fehleranalyse nötig und ein Interview, bei dem das Kind sein Vorgehen beschreibt. Geht es hingegen darum, ob eine Förderung durchzuführen ist, kann ein standardisierter Test sinnvoll sein.

Fördermöglichkeiten

Es gibt sehr viele Veröffentlichungen von Förderprogrammen, so dass es an dieser Stelle nicht möglich ist, einen kompletten Marktüberblick zu geben. Hier werden deshalb nur exemplarisch einzelne Werke genannt und kommentiert. Generelle Bewertungen von Förderkonzepten sind nicht möglich, da der Erfolg einer Fördermaßnahme immer auch von den Rahmenbedingungen aber auch von den persönlichen Überzeugungen der Lehrkraft bzw. des Lerntherapeuten abhängt. Die Reihenfolge der genannten Programme enthält keine Wertung.


Förderdidaktik Mathematik Primarstufe[24]

Die didaktische Betrachtung von Schwierigkeiten im mathematischen Anfangsunterricht von Ellrott und Aps-Ellrott möchte Lehrerinnen und Lehrern Mut machen, eigene Strategien zu entwickeln, um individuelles Lernen im täglichen Unterricht zu ermöglichen. Sie macht auf Aspekte aufmerksam, die unbeabsichtigt zu Lernschwierigkeiten führen können und stellt Gewohnheiten in Frage, die individuellem Lernen entgegen stehen. Das Konzept geht davon aus, dass ganze Unterrichtsabschnitte an bestimmten Kindern wirkungslos vorüber gehen, wenn die individuellen Lerndispositionen dieser Kinder nicht berücksichtigt werden. Das Buch besteht aus vier Teilen:

  1. Der erste Teil des Buches geht vom Schulalltag aus und zeigt auf, welche Anforderungen der Mathematikunterricht an Kinder stellt und wie daraus Schwierigkeiten entstehen.
  2. Im zweiten Teil werden an Lerninhalte gebundene Unterrichtssequenzen beschrieben, mit denen die Lernschwierigkeiten der Kinder erkundet, verhütet und (wenn nötig) behoben werden können.
  3. Den dritten Teil bildet die Förderdiagnostik. Hier wird auf die theoretischen Grundlagen von Wahrnehmung, Lernen, Üben, Erinnern und Handeln eingegangen und praktisch aufgezeigt, wie auf individuelle Lerndispositionen zielgerichtet und flexibel reagiert werden kann.
  4. Der Anhang enthält u.a. 85 Kopiervorlagen für die praktische Arbeit.


Fördern durch Fordern[25]

Petra Scherer konnte in ihrer Dissertation[26] zeigen, dass das anspruchsvolle aktiv-entdeckende Lernen und produktive Üben, wie es im Projekt "mathe2000"[27][28] ausdifferenziert wurde, auch bei Kindern mit Lernschwierigkeiten zu Erfolgen führt. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass diese Kinder in der Lage waren, individuelle Lösungsstrategien zu mathematischen Aufgaben zu entwickeln und zu nutzen. Allerdings rechneten aber fast alle Kinder Additionsaufgaben (ohne Zehnerüberschreitung) mit oder ohne Veranschaulichungsmittel nach dem problematischen Verfahren "Stellenwerte extra"[29].
Aus ihrer Dissertation hat Scherer die Förderdiagnostik "Fördern durch Fordern" entwickelt. Band 1 besteht aus vier Kapiteln:

  1. Im ersten Kapitel wird das Konzept theoretisch fundiert, aber knapp dargestellt. Eine erfolgreiche Arbeit nach diesem Konzept setzt meiner Meinung nach voraus, dass man mit dem Projekt "mathe2000" bereits vertraut ist und sich mit seinen Zielen identifiziert.
  2. Das zweite Kapitel enthält einen Test, mit dem im Sinne einer umfassenden kompetenzorientierten Diagnostik die individuellen Lernvoraussetzungen der Kinder erhoben werden können. Zu allen Aufgaben sind Kopiervorlagen vorhanden. Bei der Auswertung des Tests werden mögliche Fehler und deren Ursachen beschrieben. Konkrete Hinweise, bei welchen Fehlern welche Fördermaßnahmen ergriffen werden sollten fehlen. Es wird nur allgemein auf die folgenden beiden Kapitel verwiesen. Dies entspricht der Ganzheitlichkeit des Konzeptes.
  3. Die ausgewählten Orientierungsübungen des dritten Kapitels sollen den Aufbau des Zahlenraumes sichern und das spätere Rechnen vorbereiten. Hierzu gibt es 11 Kopiervorlagen.
  4. Im letzten Kapitel werden Übungen zur Addition und Subtraktion im Zwanzigerraum beschrieben. Hierzu gibt es 24 Kopiervorlagen.

Förder/Diagnose Box Mathematik[30]

Die Förder- und Diagnose-Box dient der zielgerichteten Beobachtung von einzelnen Kindern der Klassenstufen 1 bis 4. Dabei geht es nicht um das Festhalten von Symptomen, sondern darum, die Denkprozesse und sich entwickelnden Fehlvorstellungen des Kindes zu verstehen. Es wird ein breiter Diagnosebereich abgedeckt: visuelle Wahrnehmung, quantitative und räumliche Begriffe, Zahlverständnis, Operationsverständnis (inkl. Sachaufgaben), Rechnen und Rechenstrategien, Größen sowie Problemlösen. Die entsprechenden Beobachtungsbögen können unmittelbar nachdem ein Inhalt erarbeitet wurde zur Überprüfung des Lernerfolgs eingesetzt werden. Es ist aber auch die längerfristige Dokumentation der individuellen Lernentwicklung von Kindern möglich.
Die Diagnosebox ist nicht objektiv, da die Ausprägung der beobachteten Merkmale individuell eingeschätzt werden muss. Die Validität der Diagnosebox schätze ich als sehr hoch ein, da sie alle von Experten als wesentlich erkannten Bereiche umfasst und angemessene, z.T. vielfach bewährte Aufgaben enthält.
Das große Plus der Diagnosebox – nämlich ihre Vollständigkeit – ist gleichzeitig ihr größter Nachteil. Das angebotene Diagnose- und Fördermaterial ist so umfangreich, dass es eine intensive Einarbeitung in jedes einzelne Gebiet erfordert. Das sollte für professionelle Lerntherapeuten kein Problem sein. Lehrerinnen und Lehrer, die nur gelegentlich mit Lernschwierigkeiten zu tun haben, wird es aber abschrecken oder gar überfordern.
Eine quantitative Diagnostik ist mit der Diagnosebox nicht beabsichtigt. Mit ihrer Hilfe soll und kann jedoch entschieden werden, welche konkreten Maßnahmen zur individuellen Förderung eines Kindes ergriffen werden müssen. Dazu enthält die Box viele Fördervorschläge auf Karteikarten, die z.T. auch als Kopiervorlagen dienen. Sie können bei der Einzelförderung, teilweise auch zur Förderung in der ganzen Klasse eingesetzt werden. Das Handbuch enthält außerdem eine Kopiervorlage für die Erstellung individueller Förderpläne. Nachdem man sich mit dem zugrundeliegenden Förderkonzept vertraut gemacht hat, kann dies alles mit großem Gewinn eingesetzt werden.
Die Förder- und Diagnose-Box enthält ein Wimmelbild DIN A1 und 208 Karteikarten mit Förderideen (teilweise mit Kopiervorlagen). Nachdem die Diagnose durchgeführt wurde, kann man dem Beobachtungsbogen genaue Hinweise entnehmen, welche Förderideen für das betroffene Kind hilfreich sind. Es werden alle Bereiche der Grundschulmathematik (Klasse 1 bis 4) einschließlich der kognitiven Voraussetzungen abgedeckt.


KALKULIE[31]

Das KALKULIE-Trainingsprogramm orientiert sich am beschriebenen Entwicklungsmodell. In verschiedenen Modulen werden unterschiedliche Fördermöglichkeiten angeboten – abgestimmt auf die jeweilige Kompetenzstufe des Kindes. Die Aufgaben können hinsichtlich der Repräsentationsebene (Handlungsebene, bildliche und symbolischen Ebene) und des verwendeten Zahlenraumes variiert werden.
Das Förderprogramm besteht aus drei Bausteinen, die jeweils drei Untergruppen von Anforderungen enthalten:

  1. Baustein 1 behandelt fertigkeitsspezifische Voraussetzungen und enthält 42 Kopiervorlagen zu 35 Erarbeitungs- und 21 Übungsaufgaben aus den Bereichen Reihen bilden und Zählen, Mengenaspekte und Kardinalität sowie Zahlen- und Mengenwissen integrieren.
  2. Baustein 2 behandelt Strukturen im Zwanzigerraum und enthält 26 Kopiervorlagen zu 23 Erarbeitungs- und 15 Übungsaufgaben aus den Bereichen Strukturen erkennen und herstellen, Strukturen geschickt nutzen sowie Strukturen flexibilisieren.
  3. Baustein 3 behandelt Nicht-zählende Rechenstrategien im Zwanzigerraum und enthält 41 Kopiervorlagen zu 34 Erarbeitungs- und 24 Übungsaufgaben aus den Bereichen Strategien "Kraft der 5" und "Kraft der 10" festigen, Teil-Teil-Ganzes-Beziehungen verstehen sowie Rechenfakten erwerben.

Die vorgeschlagene Förderung wird übersichtlich und verständlich dargestellt. Alle Fördervorschläge sind in den theoretischen Ausführungen verankert, so dass eine Förderung bewusst an den kritischen Stellen ansetzen kann. Weiterführende Aufgabenstellungen und Variationen werden angeboten, wenn Kinder bestimmte Aufgaben gut bewältigen oder zusätzliche Materialien brauchen. Strategieanalysen gibt es nicht nur für die Diagnoseaufgaben sondern auch für die Beobachtungen, die während der Förderung gemacht werden. Sie beziehen sich nicht nur auf Lösungen, sondern auch auf die Bearbeitungsweisen von Aufgaben.
Das Programm ermöglicht es sowohl Lerntherapeuten als auch Lehrerinnen und Lehrern die eigene Herangehensweise an eine Förderung zu reflektieren und neues in eigene bewährte Techniken zu integrieren – aber auch Förderung von Grund auf neu zu konzipieren.

Verweise

  1. vgl. Oliver Thiel (2008): Kinder mit Lernschwierigkeiten. In: Praxisratgeber zur Betreuung und Beratung von Kindern und Jugendlichen. Problemsituationen, Unterstützungsangebote und rechtliche Möglichkeiten in besonderen und schwierigen Lebenslagen. Loseblattsammlung Forum Verlag : Merching, Kap. 2.1.6.1.-3.
  2. Jens-Holger Lorenz (1985): Über einige pathologische Fälle von Rechenstörungen. Mathematikunterricht 31, (6), S. 70
  3. Oliver Thiel (2001): Rechenschwäche und Basisfunktionen. Volxheim, S. 65f
  4. Jens-Holger Lorenz (1985): Über einige pathologische Fälle von Rechenstörungen. Mathematikunterricht 31, (6), S. 70
  5. Andrea Schulz (1995): Lernschwierigkeiten im Mathematikunterricht der Grundschule. Berlin, S. 15
  6. Andrea Schulz (1995): Lernschwierigkeiten im Mathematikunterricht der Grundschule. Berlin, S. 39
  7. Andrea Schulz (1995): Lernschwierigkeiten im Mathematikunterricht der Grundschule. Berlin, S. 39
  8. R. Cohn (1961): Dyscalculia. Archives of Neurology 4, S. 301-307
  9. P. Ranschburg (1916): Die Leseschwäche (Legasthenie) und Rechenschwäche (Arithmasthenie) der Schulkinder im Lichte des Experiments. Berlin
  10. Dieter Ellrott, Barbara Aps-Ellrott (1998): Förderdidaktik. Mathematik Primarstufe. 2. Aufl., Offenburg, S. 3-8
  11. Andrea Schulz (1995): Lernschwierigkeiten im Mathematikunterricht der Grundschule. Berlin, S. 18
  12. Jens-Holger Lorenz (1982): Lernschwierigkeiten im Mathematikunterricht der Grundschule und Orientierungsstufe. In Heinrich Bauersfeld: Analysen zum Unterrichtshandeln. Köln, S. 199
  13. Andrea Schulz (1994): Fördern in Mathematik. Was kann ich tun? Berlin, S. 6
  14. Andrea Schulz (1994): Fördern in Mathematik. Was kann ich tun? Berlin, S. 7
  15. vgl. Hans-Dieter Gerster (1997): Positionspapier. Abaküs(s)chen (1), S. 10
  16. Andrea Schulz (1995): Lernschwierigkeiten im Mathematikunterricht der Grundschule. Berlin, S. 17-19
  17. vgl. Oliver Thiel (2009): Lernschwierigkeiten im Mathematikunterricht. In: Praxisratgeber zur Betreuung und Beratung von Kindern und Jugendlichen. Problemsituationen, Unterstützungsangebote und rechtliche Möglichkeiten in besonderen und schwierigen Lebenslagen. Loseblattsammlung Forum Verlag : Merching, Kap. 2.1.6.4.
  18. Wolfram Meyerhoefer (2008): Vom Konstrukt der Rechenschwäche zum Konstrukt der nicht bearbeiteten stofflichen Hürden. In Eva Vásárhelyi (Hrsg.): Beiträge zum Mathematikunterricht 2008, Münster, S. 604.
  19. Maria Gerlach, Annemarie Fritz-Stratmann, Gabi Ricken, Siegbert Schmidt: Trainingsprogramm Kalkulie. Diagnose- und Trainingsprogramm für rechenschwache Kinder. Baustein 1. Berlin 2007.
  20. Kristin Krajewski (2003): Vorhersage von Rechenschwäche in der Grundschule. Hamburg
  21. Maria Gerlach (2007): Entwicklungsaspekte des Rechnenlernens. Fördermöglichkeiten bei beeinträchtigtem Erwerb mathematischer Kompetenzen im Grundschulalter. Essen
  22. Maria Gerlach, Annemarie Fritz-Stratmann, Gabi Ricken, Siegbert Schmidt (2007): Trainingsprogramm Kalkulie. Diagnose- und Trainingsprogramm für rechenschwache Kinder. Baustein 1. Berlin
  23. Wolfram Meyerhoefer (2008): Vom Konstrukt der Rechenschwäche zum Konstrukt der nicht bearbeiteten stofflichen Hürden. In Eva Vásárhelyi (Hrsg.): Beiträge zum Mathematikunterricht 2008, Münster, S. 603.
  24. Dieter Ellrott, Barbara Aps-Ellrott (1998): Förderdidaktik. Mathematik Primarstufe. 2. Aufl., Offenburg
  25. Petra Scherer (2006): Produktives Lernen für Kinder mit Lernschwächen: Fördern durch Fordern. Band 1: Zwanzigerraum. Horneburg
  26. Petra Scherer (1995): Entdeckendes Lernen im Mathematikunterricht der Schule für Lernbehinderte. Heidelberg, S. 294
  27. Erich Christian Wittmann, Gerhard N. Müller (1990): Handbuch produktiver Rechenübungen. Band 1: Vom Einspluseins zum Einmaleins. Stuttgart
  28. Erich Christian Wittmann, Gerhard N. Müller (1992): Handbuch produktiver Rechenübungen. Band 2: Vom halbschriftlichen zum schriftlichen Rechnen. Stuttgart
  29. Petra Scherer (1995): Entdeckendes Lernen im Mathematikunterricht der Schule für Lernbehinderte. Heidelberg, S. 242-247
  30. Sabine Kaufmann, Jens-Holger Lorenz (2006): Förder/Diagnose Box Mathematik. Braunschweig
  31. Maria Gerlach, Annemarie Fritz-Stratmann, Gabi Ricken, Siegbert Schmidt (2007): Trainingsprogramm Kalkulie. Diagnose- und Trainingsprogramm für rechenschwache Kinder. Baustein 1. Berlin