Entdeckendes Lernen

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Definitionsversuche

Heinrich Winter ist der Ansicht, dass es keine endgültige und formal befriedigende Definition des Begriffs "Entdeckendes Lernen" gibt, da der Pädagoge als Teil des Systems durch seine Definitionsversuche das System bereits verändert. Er besitzt Voreinstellungen und Erfahrungen, die das Bild vom Lernen beeinflussen. Dennoch hält Winter folgende Beschreibung zum entdeckenden Lernen fest: [1]

"Entdeckendes Lernen ist weniger die Beschreibung einer Sorte von beobachtbaren Lernvorgängen, sondern ein theoretisches Konstrukt, die Idee nämlich, daß Wissenserwerb, Erkenntnisfortschritt und die Ertüchtigung in Problemlösefähigkeiten nicht schon durch Information von außen geschieht, sondern durch eigenes aktives Handeln unter Rekurs auf die schon vorhandene kognitive Struktur, allerdings in der Regel angeregt und somit erst ermöglicht durch äußere Impulse."

Wittmann beschreibt das Prinzip des entdeckenden Lernens als Bestandteil einer von zwei Grundauffassungen des Lehrens und Lernens, die in der didaktischen Tradition miteinander konkurrieren. Die erste Position ist charakterisiert durch die Prinzipien der kleinen und kleinsten Schritte, des linearen Aufbaus, der methodischen Stufung und der Isolierung der Schwierigkeiten. Die zweite Position schließt das Prinzip des entdeckenden Lernens ein und wird auch durch das Prinzip des aktiven Lernens und das genetische Prinzip geprägt. Während das erste Lehrverfahren eher auf Leitung und Rezeptivität beruht, ist das zweite (hier befürwortete) Lehrverfahren durch Organisation und Aktivität gekennzeichnet. Die Schüler sollen Kenntnisse und Fertigkeiten erwerben und nicht nur beigebracht bekommen. Die Hilfsmittel des "Darbietens" und "Entwickelns" werden dem Lehrer dabei aus der Hand genommen und durch zwei andere - "die Veranlassung der Gelegenheit" und "die Anregung zu eigener Entwicklung" - ersetzt. Die Situation des Schülers ändert sich insofern, als dass er nicht mehr auf Empfangen, sondern auf Erarbeiten eingestellt ist. Insgesamt sind beim aktiv-entdeckenden Lernen die „einzelnen Lernabschnitte großzügiger bemessen und schaffen Sinnzusammenhänge, aus denen heraus sich für die Schüler vielfältige Aufgaben unterschiedlichen Schwierigkeitsniveaus ergeben. Durch den Lehrer angeregt und auf bestimmte Ziele hingelenkt erarbeiten sich die Schüler bestimmte Fertigkeiten, Wissenselemente und Lösungsstrategien.“ [2]

Auch Winter stellt die zwei Formen “Lernen durch Entdeckenlassen“ und „Lernen durch Belehren“ gegenüber, um einen Unterricht, der auf entdeckendes Lernen ausgerichtet ist, näher zu erläutern. Folgende Übersicht gibt er dazu an: [1]

Lernen durch Entdeckenlassen Lernen durch Belehren
Lehrer setzt auf die Neugier und den Wissensdrang. Lehrer setzt stärker auf die Methoden seiner Vermittlung.
Lehrer betrachtet die Schüler als Mitverantwortliche im Lernprozeß. Lehrer neigt stärker dazu, die Schüler als zu formende Objekte anzusehen.
Lehrer versteht sich als erzieherische Persönlichkeit und fühlt sich für die Gesamtentwicklung mitverantwortlich. Lehrer versteht sich in erster Linie als Instrukteur, als Vermittler von Lerninhalten.
Lehrer ist sich der Begrenztheit didaktischer Einflußnahme bewusst; er weiß insbesondere, dass er auch zur Verdunklung beitragen kann.    Lehrer tendiert zu einem ausgeprägten Glauben an pädagogische Machbarkeit.
Lehrer versucht, die allgemeine Bedeutung des Lernstoffs zu erhellen. Lehrer beschränkt sich hauptsächlich auf die innermathematische Einordnung des Stoffes.
Lehrer versucht, zentrale Ideen deutlich werden zu lassen. Lehrer legt größeren Wert auf lokale Abgrenzung des Inhalts.
Lehrer versucht, den Beziehungsreichtum der Lerninhalte sichtbar werden zu lassen. Lehrer hält Separationen und Isolationen für lernwirksamer.
Lehrer bietet herausfordernde, lebensnahe und nicht so arm strukturierte Situationen an. Lehrer gibt das Lernziel - möglichst im engen Stoffkontext - an.
Lehrer ermuntert zum Beobachten, Erkunden, Probieren, Fragen. Lehrer erarbeitet den neuen Stoff durch Darbieten oder durch gelenktes Unterrichtsgespräch.
Lehrer gibt Hilfen als Hilfen zum Selbstfinden. Lehrer gibt Hilfen als Hilfen zur Produktion der gewünschten Antwort.
Lehrer fördert und schätzt auch intuitives Handeln hoch. Lehrer tendiert zum möglichst raschen Gebrauch der Fachsprache.
Lehrer gibt der Eigendynamik von Lernprozessen, die sprunghaft und unsystematisch erscheinen, Raum. Lehrer setzt auf kleinschrittiges und schwierigkeitsgradig gestuftes Vorgehen.
Lehrer hält die Schüler an, ihre Lösungsansätze selbst zu kontrollieren. Lehrer fühlt sich verpflichtet, i.W. selbst Schülerbeiträge zu beurteilen.
Lehrer versucht, Schülerfehler (oder vermeintliche Schülerfehler) gemeinsam mit den Schülern zu analysieren. Lehrer versucht nach Kräften, das Auftreten von Schülerfehlern zu unterbinden.
Lehrer thematisiert das Lernen und Verstehen. Insbesondere legt er Wert auf das Bewusstwerden heuristischer Strategien. Lehrer vermeidet eher Reflexionen über das Lernen und über das Lösen von Problemen. Problemlösen vollzieht sich naiv.

Argumente für entdeckendes Lernen

Winter vertritt in Bezug auf das entdeckende Lernen die folgende These: [1]

"Das Lernen von Mathematik ist umso wirkungsvoller - sowohl im Hinblick auf handfeste Leistungen, speziell Transferleistungen, als auch im Hinblick auf mögliche schwer faßbare bildende Formung -, je mehr es im Sinne eigener aktiver Erfahrungen betrieben wird, je mehr der Fortschritt im Wissen, Können und Urteilen des Lernenden auf selbständigen entdeckerischen Unternehmungen beruht."

Diese These unterstützt er mit sechs Argumenten:

  1. Das Lernen von Mathematik kann dauerhaft nur mit eigener Einsicht erfolgen. Dann ist es ökonomischer und wirkungsvoller. Reproduktionen können nur zeitlich und inhaltlich lokal funktionieren.
  2. Da mathematische Inhalte eine höhere innere, logische Verflechtung besitzen und somit meist intern kontrollierbar sind, können sie durch eigenes Erfahren gelernt werden. Zusätzlich lassen sie sich in vielen anschaulichen Situationen repräsentieren und ermöglichen somit eigenständiges Erkunden aus dem Alltagswissen heraus.
  3. Das Erleben von Erfolgen und die Möglichkeiten zu intellektuellen und emotionalen Identifikationen werden unterstützt.
  4. Das beim entdeckenden Lernen stattfindende Absuchen und Umorganisieren des Wissens stellt eine intensive Form des Übens dar. Vor allem Transferleistungen werden vertieft.
  5. Die Bemühungen, die beim Finden von Lösungen aufgewendet werden, können vermehrt zu emotionalen Besetzungen führen. Inhalte werden so länger behalten und leichter erinnert.
  6. Neue Sachverhalte werden immer aufbauend auf bereits vorhandene Wissensstrukturen gelernt. Das entdeckende Lernen berücksichtigt in besonderer Weise das Verständnis von Lernen als einen solchen Prozess.

Wittmann bezeichnet das Lernen und Üben nach den Prinzipien des aktiven und entdeckenden Lernens aus folgenden Gründen als produktiv: [2]

  1. Der Schüler wird veranlasst und befähigt, eigene Denkleistungen zu erbringen. Nicht alle Hindernisse und Widerstände werden aus dem Weg geräumt, sodass die Schüler lernen, sie zu überwinden. Es fallen Aufgaben mit unterschiedlichen Schwierigkeitsniveaus an, sodass sich alle Schüler, also sowohl lernschwache als auch leistungsstarke beteiligen können (= natürliche Differenzierung). Es entfällt der Zwang zu einem gleichschrittigen Vorgehen auf einem mittleren Niveau.
  2. Die Bewusstheit und Verantwortung des Schülers für sein Lernen werden gefördert. Der Schüler lernt und übt überlegter, und er versucht, sich möglichst aus eigener Kraft in dem Stoffgebiet zurechtzufinden. Die dabei erzielten Erfolge stärken das Selbstvertrauen und regen dazu an, auf neue Themen aktiv zuzugehen.
  3. Die starke persönliche Beteiligung bei der Erarbeitung von Kenntnissen, Fertigkeiten und Denkstrategien führt zu viel besseren Langzeiterfolgen.
  4. Lernen und Üben in Sinnzusammenhängen entspricht dem Wesen der Mathematik und ihren Anwendungen. So wird eine Motivation aus der Sache heraus ermöglicht und ein natürlicher Rahmen für soziales, sinnerfülltes Lernen geschaffen.

Büchter und Leuders nennen zwei weitere Gründe, die für aktiv-entdeckendes Lernen sprechen: [3]

  • Sollen die Schüler ein authentisches Bild von Mathematik erwerben, dann ist es wichtig, neben ihren Produkten die Mathematik auch als Prozess zu erfahren. Beim entdeckenden Lernen können die Schüler durch das selbständige Modellieren, Problemlösen und Begründen solche Prozesse aktiv erleben.
  • Beim aktiv-entdeckenden Lernen werden die im Mathematikunterricht ebenfalls angestrebten allgemeinen personalen Kompetenzen gefördert, wie etwa die Fähigkeit zum produktiven Denken und das kritische Vermögen.

Umsetzung im Unterricht

Einschränkungen und Schwierigkeiten [1]

  1. Die Stoffauswahl muss der Lehrer treffen, da die Schüler die Bedeutung der Inhalte für das Folgelernen schwer abschätzen können.
  2. Die Lernzeit für bestimmte Inhalte ist aufgrund bestimmter Vorgaben beschränkt. Es muss somit ein Mindesttempo festgelegt werden.
  3. Die Schüler müssen sich nicht von Natur aus für mathematische Fragen interessieren.
  4. Die Situation in der Forschung, also des echten Fortschritts durch Entdecken und Erfinden, unterscheidet sich grundsätzlich von der Schulsituation. Es sind nicht Profis als freiwillige Gemeinschaft aktiv, sondern Laien in einer vorgegebenen Klasse, die nach einem Lehrplan arbeiten.
  5. Das System Schule mit Klassenunterricht, Lehrplan, Fachunterricht, Stundenplan, Prüfungen, Zeugnissen usw. erfordert insbesondere wegen der nötigen Vergleichbarkeit ein programmartiges gesteuertes Vorgehen.
  6. Die Professionalität des Lehrers zeigt sich gerade darin, möglichst viele Schüler in möglichst kurzer Zeit zu möglichst ansehnlichen und vorzeigbaren Leistungen durch gekonntes Unterrichten zu führen.

Praktische Einwände und deren Analyse [2]

  • 1. Einwand: Die Methode der kleinen und kleinsten Schritte führt nachweislich zu Erfolgen, und das Prinzip des aktiv-entdeckenden Lernens ist auch kein Wundermittel.
Andererseits: Die Erfolge mit der kleinschrittigen Methode sind von kurzfristiger und oberflächlicher Natur. Auf aktiv-entdeckende Weise lassen sich Lernschwierigkeiten besser erkennen und auffangen.
  • 2. Einwand: Aktiv-entdeckende Verfahren eignen sich nur für die guten Schüler.
Andererseits: Entdeckendes Lernen wird fälschlicherweise oft elitär als kreatives Lernen verstanden und somit als besonders anspruchsvoll angesehen. Jedoch schaft das Herstellen größerer Zusammenhänge wichtige Orientierungsgrundlagen insbesondere für schwächere Schüler. Lösungen und Lösungswege werden nicht vorgegeben, so ist eine Bearbeitung auf verschiedenen Schwierigkeitsniveaus möglich.
  • 3. Einwand: Aktiv-entdeckende Verfahren sind zu zeitaufwendig.
Andererseits: Das Lösen von Musteraufgaben und deren Vergleich nimmt natürlich weniger Zeit in Anspruch als das selbständige Erkunden und die Diskussion von Ansätzen, aber das Lernen zusammengehöriger Wissenselemente und Fertigkeiten ist nicht nur leichter, sondern auch ökonomischer und schneller. Der höhere Zeitaufwand für das entdeckende Vorgehen wird somit durch die Themenorientierung kompensiert.
  • 4. Einwand: Ein aktiv-entdeckender Unterricht ist durch die Vielfalt an Schüleraktionen und dem breiten Leistungsspektrum schwer zu kontrollieren. Es könnten Disziplinprobleme und Kontrollverlust eintreten.
Andererseits: Ein aktiv-entdeckender Unterricht lässt sich anhand eines Konzepts bestehend aus der festgelegten großschrittigen Reihenfolge von zu bearbeitenden Fragen und Aufgaben gut steuern. Ein fester Rahmen, der auch Forderungen an die Schüler einschließt, ist auch im aktiv-entdeckenden Unterricht unverzichtbar.
Eine echte Arbeitshaltung entsteht am besten aus einer zielgerichteten Arbeit an interessanten Lernaufgaben. Beim entdeckenden Lernen können die Schüler echte Neugier und eine Bewusstheit für ungestörtes zielgerichtetes Arbeiten entwickeln. Ein aktiv-entdeckender Unterricht kann somit sogar die Disziplin unterstützen.
  • 5. Einwand: Eltern und Kollegen stimmen aktiv-entdeckenden Unterrichtsverfahren häufig nicht zu, insbesondere wegen der erschwerten Notenvergabe.
Andererseits: Aktiv-entdeckende Verfahren werden durch heutige Rahmenrichtlinien und Lehrpläne formal gerechtfertigt und gestützt. Die eigene Vertrautheit mit den Verfahren hilft auch, Eltern und Kollegen davon zu überzeugen. Schriftliche Leistungen lassen sich mit passenden Aufgaben auch in Klassenarbeiten festste jedochllen. Über mündliche Leistungen erhält man beim entdeckenden Lernen durch die vielfältigen Betätigungen und Äußerungen der Schüler sogar besonders gute Aufschlüsse.
  • 6. Einwand: Die aktiv-entdeckenden Lehr-/Lernformen sind für den Lehrer anstrengender und aufwendiger.
Andererseits: Zum Erlernen aktiv-entdeckender Unterrichtsformen muss zunächst Zeit und Energie investiert werden. Danach kann ein solcher Unterricht zu einer Entlastung im Vergleich zum Unterrichten mit der kleinschrittigen Methode führen, da der Lehrer sich nicht ständig um den genauen Unterrichtsablauf, die Ausschaltung falscher Schülerreaktionen, die Einengung von Schülerantworten und die Motivation in jedem kleinen Schritt zum nächsten kümmern muss. Der Lehrer kann sich vom ständigen direkten Eingriff im Unterricht etwas zurückziehen und konzentriert sich auf eine indirekte Lenkung. Er gibt lediglich Hilfe zur Selbsthilfe.

Aufgaben zum entdeckenden Lernen [4]

Aufgaben, die eines oder mehrere der folgenden Merkmale haben, können für entdeckendes Lernen geeignet sein:

  • Zugänglichkeit: Aufgabe ist leicht zugänglich, baut auf Vorerfahrungen auf oder ist in eine anschauliche Situation eingebettet.
  • Herausforderung: Aufgabe hat Aufforderungscharakter, z.B. herausfordernde Fragen durch z.B. offensichtliche innere Widersprüche.
  • Offenheit der Ausgangssituation: Aufgabe besteht aus einer Situation, in der man erst geeignete mathematische Fragen finden muss.
  • Offenheit des Weges: Aufgabe kann mit unterschiedlichen Ansätzen bearbeitet werden.
  • Offenheit des Ergebnisses: Aufgabe kann verschiedene Ergebnisse haben (unterschiedliche Modelle, Entscheidungen treffen).
  • Barriere: Aufgabe lässt sich nicht durch Anwenden gelernter Verfahren abarbeiten. Es müssen erst geeignete, ggf. auch erst zu annähernden Lösungen führende Methoden oder die Lösung erhellende Begriffe entwickelt werden.
  • Variation: Aufgabe erlaubt Umformulierungen oder Variation der Aufgabenstellung, z.B. Zulassen von Vereinfachungen oder das Erkunden von Beispielen.
  • Bedeutsamkeit: Aufgabe führt zum Ausloten und zur Konkretisierung eines allgemeinen mathematischen Konzepts, einer fundamentalen Idee.
  • Authentizität: Die Art und Weise, wie Mathematik den Schülern in der Aufgabe entgegentritt, spiegelt in realistischer und authentischer Weise die Entwicklung oder die Anwendung von Mathematik wider.

Literatur

  1. 1,0 1,1 1,2 1,3 Winter, Heinrich: Entdeckendes Lernen im Mathematikunterricht. Vieweg: Braunschweig/Wiesbaden, 1991 (1989). S. 1-7.
  2. 2,0 2,1 2,2 Wittmann, Erich Christian: Wider die Flut der „bunten Hunde“ und der „grauen Päckchen“: Die Konzeption des aktiv‐entdeckenden Lernens und des produktiven Übens. In: Wittmann, Erich Christian, Müller, Gerhard, N.: Handbuch produktiver Rechenübungen, Band 1. Stuttgart; Düsseldorf; Berlin; Leipzig: Klett 1994, S. 157 ‐ 170
  3. Büchter, Andreas/ Leuders, Timo: Mathematikaufgaben selbst entwickeln. Lernen fördern - Leistung überprüfen. Berlin: Cornelsen 2005, S. 115-117
  4. Büchter, Andreas/ Leuders, Timo: Mathematikaufgaben selbst entwickeln. Lernen fördern - Leistung überprüfen. Berlin: Cornelsen 2005, S. 118-119


Der Beitrag kann wie folgt zitiert werden:
Madipedia (2019): Entdeckendes Lernen. Version vom 6.03.2019. In: madipedia. URL: http://madipedia.de/index.php?title=Entdeckendes_Lernen&oldid=31029.